In seiner mehr als zwei Jahrzehnte währenden Amtszeit hat der studierte Musik- und Literaturwissenschaftler Prof. Andreas Schulz das Leipziger Gewandhaus in der Champions League der Weltorchester etabliert und es zuletzt durch eine Zeit gelenkt, in der ein normaler Betrieb plötzlich nicht mehr möglich war. Im Interview mit Business Beast spricht er über die Bewältigung der Krise, erklärt, warum er nicht befürchtet, dass seine Besucher einmal aussterben könnten und weshalb RB-Leipzigs Mäzen Dietrich Mateschitz in seinem Haus sehr willkommen ist.
Herr Prof. Schulz, was fällt Ihnen eigentlich leichter: Das Lesen einer Partitur oder einer Unternehmensbilanz?
Natürlich das Lesen einer Partitur. Ich habe Musikwissenschaft in Hamburg studiert und war einige Jahre als ehrenamtlicher Kirchenmusiker beschäftigt. Doch das Lesen einer Unternehmensbilanz fällt mir ähnlich leicht. Hier kommt mir aber weniger ein Studium, sondern mein ausgeprägtes Interesse an Zahlen sowie die Erfahrung durch meine Arbeit zugute.
Das Gewandhausorchester umfasst 185 Musiker und bespielt drei Orte in Leipzig, das Gewandhaus veranstaltete vor der Pandemie jährlich fast 700 Veranstaltungen mit insgesamt einer halben Million Besuchern. Nach heutigem Stand – wie sind Sie wirtschaftlich durch die letzten zweieinhalb Jahre gekommen?
Ich bin sehr dankbar, dass die Stadt Leipzig ohne Einschränkungen zum Gewandhaus und anderen Kultureinrichtungen der Stadt stand und steht. Die Verantwortlichen haben die notwendigen Zuwendungen zwar etwas gedrosselt, aber massive Einschnitte gab es keine. Dank der Möglichkeiten, die sich durch staatliche Unterstützungsprogramme ergeben haben und der Möglichkeit, Kurzarbeit auch für Beschäftigte an Theatern zu nutzen, konnten außerdem Einnahmeausfälle abgemildert werden. Einige Vorhaben werden dennoch nach hinten verschoben werden müssen.
Was ist jetzt Ihre wichtigste Aufgabe?
Das Publikum wieder zurückzugewinnen. Ich rechne mit bis zu zwei Jahren, bis wir wieder Auslastungszahlen von durchschnittlich 96% haben werden.
RB Leipzig kann mit rund 64 Millionen Euro für Spielergehälter planen. Haben Sie Herrn Mateschitz schon im Leipziger Gewandhaus begrüßen können?
Nein, noch nicht, aber es besteht eine herzliche Einladung an Herrn Mateschitz. Wir haben allerdings auch eine enge Verbindung zu RB Leipzig und konnten schon einige Projekte gemeinsam umsetzten. Wir sind sehr stolz auf diesen großartigen Verein und seine Erfolge.
Ist die Sponsorensituation durch die Pandemie schwieriger geworden oder haben die finanziellen Förderer Ihres Orchesters auch in dieser schwierigen Zeit zu Ihnen gehalten?
Die Sponsoren stehen auch weiterhin fest zu Ihrem Gewandhausorchester, wofür ich sehr dankbar bin. Durch die vielen Monate der Untersagung des Veranstaltungsbetriebs mussten wir in einem aufwendigen Verfahren die Leistungen der Sponsorenverträge neu bewerten und verrechnen. Dies hat sehr viel Zeit gekostet. Alle Sponsoren haben uns dabei unterstützt und ihre Leistungen zum größten Teil gespendet.
Mit Blick auf die kommenden Spielzeiten und eine noch nicht ganz ausgestandene Pandemie: Was ist Ihr größter Wunsch für die Zukunft?
Dass der Konzertbesuch wieder einen festen Stellenwert im Herzen sowie im Kalender aller musikbegeisterten Menschen bekommt. Und dass unser Publikum, Jung und Alt, wieder zurückkommt. Aber ich wünsche mir auch, dass unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie alle Musikerinnen und Musiker nach mehr als zwei Jahren des Abstandhaltens, der Trennung, von Arbeit in Homeoffice und vielem mehr wieder zu einer motivierten Gemeinschaft zusammenwachsen.
Welche Priorität hat die Überführung des Gewandhauses in eine Stiftung für Sie?
Ich hoffe, dass wir nun endlich die Gründung unserer Stiftung „Zukunft Gewandhaus“ vorantreiben können. Erste Zusagen von Stiftern und Unternehmen liegen vor. Dies ist für uns eine gewichtige Säule im Fundraising und zur Absicherung der Zukunft unseres Gewandhausorchesters.
Klassische Musik ist im Alltag vieler Menschen heute keine Selbstverständlichkeit mehr. Wie konkurrieren Sie im 21. Jahrhundert erfolgreich um die Aufmerksamkeit der Menschen?
Auch wenn der Konzertbesuch einen Teil der Freizeitgestaltung der Menschen darstellt, ist die Konkurrenzsituation zu anderen Angeboten meines Erachtens überschaubar. Das liegt eben an den unterschiedlichen Interessen der Menschen. Von unserer Musik geht allerdings eine starke emotionale Kraft aus, die nach einem Konzertbesuch lange nachwirkt und die – neben der unendlichen Vielfalt innerhalb eines Genres – ihre Einzigartigkeit ausmacht. Ich bin absolut davon überzeugt, dass klassische Musik neben ihrem bloßen Unterhaltungswert die Menschen auf eine komplexe Art anregt, die unbewusst wirkt oder bewusst rezipiert werden kann. Wenn es gelingt, diese Kraft zu verbinden mit einer programmatischen Planung, die auch gesellschaftliche Themen transportiert, also eine Relevanz herstellt für die Gäste, ist der Besuch eines klassischen Konzerts ein absolut attraktives Angebot für jeden. Es ist aber natürlich wichtig, dies alles ins Bewusstsein potenzieller Zuhörerinnen und Zuhörer zu rücken, zum Beispiel durch Musikvermittlung und durch eine Kommunikation, die auch jüngere Menschen anspricht.
Befürchten Sie, dass Konzertbesucher und treue Abonnenten irgendwann „aussterben“ könnten
Wir stehen auf dem Standpunkt, dass das Publikum für unsere Kunst nachwächst. Es erneuert sich kontinuierlich. Aber es wächst nur dort etwas, wo auch etwas gesät wird – deswegen sind Musikvermittlungsangebote in Schulen und Kindergärten oder kulturellen Stadtteilzentren ein wichtiges Betätigungsfeld unseres Hauses. Wer früh Erfahrungen mit Musik gemacht hat, kommt später als regelmäßiger Konzertgast wieder. Und das ist der Punkt: “später“. Unser Publikum ist im Durchschnitt etwas älter und diese Gäste zählen zum verletzlichsten Personenkreis in der Pandemie. Das hat Ängste ausgelöst, die bis heute nachwirken. Einige wollen sich zum Beispiel nicht in größere Menschenmengen begeben. Ein Teil unseres Publikums ist aufgrund der Auswirkungen der Pandemie also tatsächlich verloren gegangen. Die Pandemie hat das kontinuierliche Nachwachsen des Publikums für einen Moment angehalten. Die entstandene Lücke müssen wir jetzt wieder schließen. Aber ich bin zuversichtlich, dass dies gelingt.
Sie sind seit mehr als zwei Jahrzehnten Gewandhausdirektor in Leipzig und haben das Ensemble in der Weltspitze etabliert. Liegt die gute alte Zeit der Hochkultur längst hinter uns oder die besten Tage noch vor uns?
Es geht weniger darum, ob die besten Tage hinter uns oder vor uns liegen. Unsere Welt der Musik verändert sich ständig und die Herausforderungen sind nicht immer leicht, aber es ist überaus spannend, sie zu gestalten und nach Lösungen zu suchen. Denn die Begeisterung für klassische Musik ist meiner Meinung nach beim Publikum ungebrochen, aber die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, in denen Konzerte stattfinden, werden die Inhalte und die Art der Produktion verändern. Die Welt der Klassik wird sich wohl, ausgelöst durch Überlegungen zum Klimaschutz, durch Corona und den Krieg in der Ukraine schneller verändern, als sie es bisher getan hat. Die Aspekte „Bildung“ und „Werte“, die dem Narrativ der Hochkultur immanent sind und die wir ja auch gerne postulieren, werden in unseren programmatischen Überlegungen in der Zukunft eine größere Rolle spielen – ansonsten werden wir unglaubhaft und verlieren das Publikum.
Herr Prof. Schulz, vielen Dank für das Gespräch.
Die Fragen stellten Matthias Schau und Maxim Zöllner-Kojnov.
Bild „Gewandhaus Leipzig“ von Adina Bitterlich unter der Lizenz CC BY 2.0 via Flickr.
Bild „RMF 2019: Gewandhausorchester Leipzig / Andris Nelsons Gewandhauskapellmeister im Kurhaus Wiesbaden“ von RheingauMusikFestival unter der Lizenz CC BY-NC 2.0 via Flickr.