Die RAF, Axel Springer und die Lehren für heute
Eine Explosion erschüttert das Hamburger Hochhaus des Axel-Springer Verlags. Vier Minuten später detoniert ein zweiter Sprengsatz. Zahlreiche Mitarbeiter werden zum Teil schwer verletzt. Drei weitere Bomben werden später entschärft. Das geschah am 19. Mai 1972 um 15:41 Uhr, vor 50 Jahren. Wenige Tage später bekennt die RAF sich zu dem Attentat.
Peter Tamm ist damals Vorstandsvorsitzender des Axel-Springer-Verlages. Am Tag des Anschlags war er gerade in die Schweiz gereist. Dort angekommen, erfährt er von den Ereignissen in Hamburg. Seine erste Reaktion – ein Anruf am Aeroporto cantonale di Locarno: „Auftanken und sofort wieder zurück nach Hamburg“. Sein Sohn Peter Tamm jr. spricht mit Business Beast über die Zeit des Anschlags auf Deutschlands größtes Medienhaus.
Sven Felix Kellerhoff ist seit 1997 selbst für den Axel-Springer Verlag tätig. Im Jahr 2003 wurde er zum Leiter des Ressorts für Zeit- und Kulturgeschichte der WELT. Daneben blickt er auf mehr als 20 selbstständige Buchveröffentlichungen zurück. Außerdem publiziert er immer wieder gemeinsam mit seinem Kollegen Lars-Broder Keil – dem Leiter des Unternehmensarchivs der heutigen Axel Springer SE.
Herr Tamm, wie erinnern Sie sich an den Moment, als ihr Vater die Nachricht aus Hamburg erhielt und an die Tage und Wochen danach?
Peter Tamm: Wir waren in unserem Haus in der Schweiz. Dort wollten wir die Pfingsttage verbringen. Da klingelte das Telefon und mein Vater wurde kreidebleich. Er sagte nur: „Oh Gott, im Hamburger Haus sind Bomben hochgegangen… Ich muss los“. Mehr nicht. Dann flog er zurück nach Hamburg. Die nächsten Tage hat er dann komplett im Hamburger Büro verbracht, dort sogar übernachtet. Mein Vater war damals wirklich geschockt und sehr getroffen.
Der Anschlag fiel in eine Zeit, als die Ablehnung des Axel-Springer-Konzerns in der Öffentlichkeit zunahm. Haben Sie dieses Klima als Kind spüren können?
Peter Tamm: Ehrlich gesagt, war ich da noch zu jung. Von meinen Eltern habe ich aber mitbekommen, dass sie wirklich Angst um die Familie hatten. Von uns Kindern haben sie das alles ferngehalten. Wir konnten also trotzdem unbeschwert aufwachsen. Dafür muss man wissen, Ziele des RAF-Terrors waren im Mai 1972 auch Menschen. Damit hatte mein Vater sehr zu kämpfen.
Drohungen gegen den Verlag, führende Mitarbeiter und die BILD-Zeitung hatte es damals immer wieder gegeben. Aber hat jemand ernsthaft mit einem Attentat gerechnet?
Sven Felix Kellerhoff: Zur Zeit des Anschlags lief bereits die „Mai-Offensive“. Vor den Explosionen in Hamburg gab es schon vier Anschläge, darunter in Frankfurt mit einem amerikanischen Todesopfer. Aber sich wirklich vorzustellen, selbst Opfer eines solchen Anschlags zu werden, das war damals eher nicht in den Köpfen der Leute. Die Gefährdungswahrnehmung war eine ganz andere als heute. Vor dem 19. Mai 1972 gab es deshalb auch keine besonderen Sicherheitsmaßnahmen im Verlag. Das Haus war offen und konnte von jedem betreten werden. So hatten auch die RAF-Täter keine Probleme die Bomben ins Haus zu bringen.
Herr Tamm, ihr Vater war zu dieser Zeit Vorstandsvorsitzender der Axel Springer AG. Wie hat der Anschlag seinen Job verändert?
Peter Tamm: Nach dem Anschlag war alles anders. Plötzlich musste ein Sicherheitsdienst her. Denn mein Vater arbeitete fortan unter potentiell lebensbedrohlichen Verhältnissen. Dabei musste er sich vor allem auch um die vielen Mitarbeiter und deren berechtigte Sorgen kümmern. Der Verlag war ein riesiges Schiff, das auf Kurs gehalten werden musste. Die Gefahr von außen und die verständliche Panik im Unternehmen, all das war schon extrem.
Wie veränderte der Anschlag das Leben im Verlag?
Sven Felix Kellerhoff: Was für Peter Tamm Sr. galt, galt in abgeschwächter Weise auch für seine Mitarbeiter. Der deutlichste Effekt war sicherlich der Verlust der gefühlten Sicherheit am eigenen Arbeitsplatz. Es geht sehr schnell, dieses Gefühl zu zerstören. Es wieder aufzubauen, ist hingegen ein langsamer Prozess. Im Gebäude gab es nach den Anschlägen natürlich immer mehr Sicherheitskontrollen. Sogar Körperkontrollen standen damals im Raum, wurden aber letztlich nicht eingeführt. Für die Mitarbeiter änderte sich also vieles in kurzer Zeit. Heute leben wir wie selbstverständlich mit solchen Risiken. Damals war das eine einschneidende Erfahrung.
Kann man sagen, dass das Bombenattentat fortan zur Identität des Verlags gehörte?
Sven Felix Kellerhoff: Das würde ich nicht sagen. Der Anschlag stand immer im Raum, gehörte aber nicht wirklich zur Identität. Er wurde also eher ausgeblendet. Ein Beleg dafür ist auch unser neues Buch. Wir waren erstaunt, wie viel Material es gibt, das aber nie ausführlich zusammengestellt wurde. Außer an Jahrestagen gab es darüber nur selten ausführliche Artikel.
Unter den Mitarbeitern selbst herrschte damals eine Art Familiengefühl. Hat der Anschlag diese Zusammengehörigkeit gestärkt?
Peter Tamm: Klar, das hat die Kollegen damals stärker zusammengeschweißt…
Sven Felix Kellerhoff: … und das gilt besonders für die inhaltlich tätigen Mitarbeiter des Unternehmens. Also jene, die sich mit dem Unternehmen und mit dem was sie tun, identifizierten. Die standen mit ihrem Namen und ihren Texten schließlich auch in der Öffentlichkeit.
Waren diese Mitarbeiter mit Blick auf ihre publizistische Tätigkeit eher verängstigt oder galt es damals erst recht, nun noch entschiedener über den Terror der RAF zu berichten?
Sven Felix Kellerhoff: Nicht noch entschiedener! Sondern mit der gleichen, seriösen Entschiedenheit wie vor dem Anschlag – natürlich je nach Machart des Blattes. Das sah bei BILD anders aus als beim Hamburger Abendblatt und der Berliner Morgenpost und dort wiederum anders als bei der WELT. Aber an der Berichterstattung änderte sich durch den Anschlag nichts.
Wie fiel die politische Resonanz damals aus?
Sven Felix Kellerhoff: In der offiziellen Politik war die Resonanz damals natürlich einhellig verurteilend. Auch wenn manche linken Intellektuellen schon vorher eher mit der RAF sympathisierten. Die distanzierten sich selbst nach dem Anschlag nicht von ihrem Irrglauben. Und in der Zivilgesellschaft, vor allem im linken Flügel, gab es durchaus auch eine Art klammheimliche Freude. Einer der Gründe, warum wir umso entschiedener daran arbeiten, diesen Mythen und der Verharmlosung der RAF mit publizistischen Mitteln entgegenzutreten.
Welche Erkenntnisse können wir aus den damaligen Ereignissen für unsere Gegenwart ziehen?
Peter Tamm: Stichwort Pressefreiheit. Damals haben wir den Versuch eines Eingriffs in diese Freiheit erlebt. Daraus folgte einmal mehr die Erkenntnis, dass man sie schützen muss und sich nicht irgendwelchen Strömungen hingeben darf. Indem Springer geschwächt werden sollte, versuchte man schließlich auch eine öffentliche Meinung zu beeinflussen. Das ist genau das, was nicht passieren darf – und das gilt noch heute uneingeschränkt. Wir sehen das ja aktuell zum Beispiel in Russland.
Sven Felix Kellerhoff: Außerdem lernen wir, wie wichtig es ist, dass Meinungen kontrovers aber dennoch friedlich ausgetauscht werden. Wir sehen, welche Folgen Drohungen mit Gewalt haben können. Der 19. Mai 1972 war nichts anderes als ein Tabubruch. Daran sollte uns dieses Datum stets erinnern.
Herr Tamm, Herr Kellerhoff, vielen Dank für das Gespräch.
Im Mittler im Maximilian Vlg. ist in diesen Tagen ein Buch über das Bombenattentat auf den Axel-Springer-Verlag erschienen. Darin verdichten die WELT-Redakteure Lars-Broder Keil und Sven Felix Kellerhoff historische Hintergründe, Zeitzeugenberichte und Ermittlungs- und Prozessakten über die Mai-Offensive der RAF-Terroristen. „Zielscheibe Axel Springer“ – 255 Seiten, 24,95 Euro (ISBN 978-3-8132-1114-6).
Die Fragen stellten Louis Hagen und Maxim Zöllner-Kojnov.
Bebilderung mit freundlicher Unterstützung des Unternehmensarchivs der Axel Springer SE.