Der 1. Mai und die Zukunft der Arbeit

132 Jahre ist es nun her, dass sich der Internationale Arbeiterkongress der Sozialistischen Internationale – eine Art früher Vorläufer der internationalen Sozialdemokratie und der Gewerkschaften – in Paris traf um den 1. Mai zu einem „Manifestationstag“ für die Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter zu machen. Vor allem das Verbot der Kinderarbeit, der 8-Stunden-Tag und der Arbeitsschutz sollten im Mittelpunkt stehen, wenn am 1. Mai des Folgejahres 1890 dafür in allen sich industrialisierenden Ländern demonstriert werden würde.

Ein Gastbeitrag von Sigmar Gabriel.

Das Datum war nicht zufällig gewählt, weil am 1. Mai 1886 in den USA rund 400.000 Arbeiter in vielen Städten für die Einführung des 8-Stunden-Tages in den Streik getreten waren und es in den Folgetagen in Chicago zu schweren Auseinandersetzungen mit Todesfällen sowohl auf der Seite der streikenden Arbeiter als auch der Polizei gekommen war. Der 1. Mai sollte an diese Auseinandersetzung erinnern und mit Demonstrationen auf die Forderungen der immer stärker an Selbstbewußtsein gewinnenden Arbeiterbewegung aufmerksam machen.

Nelken und Missbrauch

Da solche Demonstration z.B. in Deutschland aufgrund des immer noch geltenden Bismarckschen Gesetzes „gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ verboten waren, traf man sich hierzulande zu sogenannten „Mai-Spaziergängen“. Als Erkennungszeichen trugen die Teilnehmer eine rote Nelke am Knopfloch, denn dafür konnte man selbst in Preußen nicht ins Gefängnis kommen. Ein allgemeiner arbeitsfreier Feiertag wurde der 1. Mai nur im Revolutionsjahr 1919. Erst der Missbrauch des 1. Mai durch die Nationalsozialisten führte ab 1933 zu einem allgemeinen „Feiertag der deutschen Arbeit“, um das Verbot der Gewerkschaften und deren Gleichschaltung zu kaschieren.

In der jungen Bundesrepublik wurde der 1. Mai jahrzehntelang als machtvolle Demonstration der freien deutschen Gewerkschaften im Deutschen Gewerkschaftsbund genutzt, um deren tarif- und gesellschaftspolitischen Forderungen öffentlichkeitswirksam Nachdruck zu verleihen. Zugleich aber begann schon in den 80er Jahren eine Ritualisierung des 1. Mai. Die gewerkschaftlichen Maidemonstrationen wurden mit Maifesten verbunden, um mehr Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu binden. Bier und Bockwurst statt Demo und rote Fahnen.

Gelegentlich boten DGB-Gewerkschaften auch „Fahrten in den Mai“ als Tagesausflug in Naherholungsgebiete an, statt sich an den Maidemonstrationen zu beteiligen. Wirkliche Aufmerksamkeit fanden die Mai-Demonstrationen immer seltener. Nur die „Mai-Bambule“ der Berliner autonomen Szene sorgte noch für bundesweite Schlagzeilen, obwohl die daran beteiligten Mitglieder des „Schwarzen Blocks“ mit der organisierten Arbeitnehmerschaft der Gewerkschaften wahrlich nichts gemein hatten.

Vom politischen Kampftag zur Traditionsveranstaltung

Das alles hatte natürlich auch mit wachsendem Wohlstand, relativ hohen Standards der sozialen Sicherheit und den damit verbundenen Individualisierungsschüben in Deutschland zu tun – jedenfalls bei dem Teil der Arbeitnehmerschaft, die traditionell die Träger gewerkschaftlichen Selbstbewusstseins gewesen waren. Waren doch der 1. Mai und die Arbeiterbewegung immer getragen durch aufstiegsorientierte Facharbeiter und Angestellte und nie durch Geringqualifizierte und Arbeitslose.

Betrieblich nahm die Bedeutung der Gewerkschaften vor allem in größeren Unternehmen als klassische Interessenvertretung in den letzten Jahrzehnten deshalb durchaus an Bedeutung zu. Gesellschaftlich nahm sie eher ab. Der 1. Mai als POLITISCHER Kampftag der Arbeiterbewegung entfaltet deshalb seit langer Zeit immer weniger Bedeutung und hat inzwischen den Charakter einer historischen Traditionsveranstaltung angenommen, zu der die aktiv Beschäftigten immer weniger beitragen und den Bezug meist vollständig verloren haben. Der Blockbuster der Arbeiterbewegung ist zum Programmkino für Cineasten geworden.

Allerdings hat sich längst ein gespaltener Arbeitsmarkt in Deutschland etabliert. Das hinter uns liegende „goldene Jahrzehnt“, in dem Deutschland als großer Globalisierungsgewinner seine Rolle als Industrialisierer der Welt gewinnbringend ausbauen konnte, hat bei weitem nicht alle Beschäftigten erreicht. Ganz im Gegenteil: Gut und gerne neun Millionen Beschäftigte in Deutschland arbeiten im Niedriglohnsektor. Darüber hinaus steht Deutschlands Wirtschaft und der mit ihr verbundene Arbeitsmarkt aber vor so grundsätzlichen Transformationen, dass die konjunkturelle Wiederbelebung der Post-Corona-Zeit schon fast als vernachlässigbares Problem erscheint: Seit Beginn der Industrialisierung gehört Deutschland zu den Staaten, die besser als andere Produkte und Verfahren entwickeln und ständig erneuern konnten, um durch die dabei erreichten Effizienzgewinne auf dem Weltmarkt Erfolg zu haben.

Wir bauen die besten Autos, haben den besten Maschinenbau, die beste Elektrotechnik und die leistungsstärkste Chemie ebenso wie die effizientesten Umwelt- und Energietechnologien. Seit rund 10 Jahren verschiebt sich aber ein wachsender Teil der Wertschöpfung vom Produkt auf die Datenplattform – die aber beherrschen eine Handvoll amerikanischer Unternehmen und vermutlich demnächst zwei Hände voll chinesische. Deutschland gerät in Gefahr ans Ende der industriellen Wertschöpfungskette zu geraten. Das und die Herausforderung einer klimaneutralen Wirtschaft erfordern einen gewaltigen Innovationsschub und erhebliche Veränderungen in der Qualifikation der in Deutschland Beschäftigten.

Es besteht überhaupt kein Zweifel daran, dass künstliche Intelligenz, Robotics und maschinelles Lernen – subsummiert unter dem Stichwort Digitalisierung und Industrie 4.0 – kommen und massive Beschäftigungseffekte haben werden. Und wer glaubt, der Green Deal werde ohne Blessuren am Arbeitsmarkt vorbeigehen, ist ein Träumer. Für ein Elektroauto braucht man eben weder Getriebehersteller, noch Ölfilter, Zylinderköpfe oder Abgassysteme.

Es geht ums Überleben

Angesichts der weitreichenden, zuweilen disruptiven Veränderungen und deren enormer politischer Sprengkraft für Gesellschaft und Demokratie, halte ich es für eine politische Tragödie, dass diese Themen auf keiner Agenda stehen. Ein Ansteigen der Arbeitslosigkeit – vor allem im Niedriglohnsektor und bei der Leiharbeit – führt im ersten Schritt zu steigenden Ausgaben der Gebietskörperschaften. Im zweiten Schritt aber forciert sie die ohnehin schon klaffende Lücke zwischen denen da Oben und denen da Unten.

Für alle Unternehmen geht es bei Digitalisierung und nachhaltigem Wirtschaften nicht um einen Modetrend, sondern schlicht um die künftige Wettbewerbsfähigkeit – also um das Überleben. Und es ist eine bittere Wahrheit: Nicht jeder wird auf dem Weg in die Zukunft ein Ticket für den Google-Bus ergattern. Wenn Zukunftsforscher sagen, dass wir heute maximal 20 Prozent der zukünftigen Jobs überhaupt kennen, muss man die Zahl nicht glauben, aber den Trend erkennen und jetzt die Weichen stellen.

Es geht um nicht weniger als eine wirtschafts- und gesellschaftspolitische Debatte, die auf den öffentlichen Marktplatz gehört. Niemand hat alle Antworten. Schon gar niemand hat ein Patentrezept. Aber die Fragen müssen artikuliert werden. Gewerkschaften und Arbeitgeber, Parteien und Verbände, Unternehmer und Beschäftigte sollten so schnell als möglich diese Debatte führen.

Blickt man zurück auf die Geburtsstunden des 1. Mai landet man in Chicago des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Unternehmer und Arbeitnehmer – ihr Verhältnis war von einem tiefen gegenseitigen Misstrauen, von Mord- und Totschlag, geprägt. Aus dieser Feindschaft wurde in den späteren Jahrzehnten eine Tarifpartnerschaft. Angesichts der künftigen Herausforderungen sollte daraus eine neue Sozial-Freundschaft werden, die von einem gesamtgesellschaftlichen Interesse geleitet wird. Gute Arbeit und faire Löhne bleiben zentrale Bedingungen für ein gelungenes Leben und die Chance auf Teilhabe am gesellschaftlichen Wohlstand. Die deutsche Geschichte zeigt: Erst diese Möglichkeit der Teilhabe am Haben und am Sagen sichert in unserem Land sozialen Frieden und Demokratie.

Gerechtigkeit für alle!

Die Erschütterungen und der Vertrauensverlust in fast allen entwickelten demokratischen Industriestaaten zeigen: Die aktuelle Form globalisierter Wirtschaft schließt zu viele aus, die sich als Zurückgelassene empfinden. Für sie sind nicht wie 1889 Gewerkschaften oder Sozialdemokratie die Hoffnungsträger für ein besseres Leben, sondern immer stärker diejenigen, die eine Rückkehr in die scheinbar heile Welt des Nationalstaats versprechen.

Wer also die Vorteile der internationalen Arbeitsteilung, die wir Globalisierung nennen, erhalten will, muss ihr einen verlässlicheren sozialen Rahmen geben, als wir ihn heute vorfinden. Die Vertreter liberaler Marktwirtschaften und ihre Unternehmen müssen sich mit der Sozialstaatsidee versöhnen und verbünden – oder sie zerstören ihre eigenen Grundlagen: die Freiheit. Globalisierung ohne soziale Sicherheit und gerechte Teilhabe ist nicht nachhaltig, sondern führt zu Populismus und im schlimmsten Fall zu klirrenden Scheiben. Oder wie es der frühere Bischof von Hildesheim Josef Homeyer ausdrückte: „Das Ziel der Globalisierung muss Gerechtigkeit für alle und nicht Reichtum für wenige sein.“

1889 lautete die Parole: „Das Kapital ist national organisiert. Dagegen hilft nur die internationale Solidarität der Arbeiterbewegung.“ 132 Jahre später stellen wir fest: Wenn etwas international organisiert ist, dann das Kapital. Politik und Gewerkschaften dagegen sind immer noch weitgehend an nationalen Regeln interessiert. Das zu ändern, wäre eine Botschaft des 1. Mai, die wieder Hoffnung machen könnte.


Foto: Flavio Gasperini

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