Die Rechnung, bitte…

ein Auszug aus Thilo Sarrazins Neuerscheinung „Wir schaffen das“:

Regierungsprogramme, die eine politische Partei vor einer wichtigen Wahl präsentiert, darf man nicht allzu sehr auf die Goldwaage legen, schließlich soll ja eine Wahl gewonnen werden. Wenn allerdings eine Partei unter derselben Vorsitzenden und Regierungschefin 16 Jahre lang ununterbrochen regiert, kann sie sich jedenfalls auf einen Mangel an Chancen, das Angekündigte auch umzusetzen, nicht berufen. In einer funktionierenden Demokratie ist es äußerst selten, dass eine Regierung anderthalb Jahrzehnte lang das exakte Gegenteil von dem tut, was ihre tragende Partei vorher im Regierungsprogramm angekündigt hatte. Genau das ist aber in Deutschland mit der von der CDU/CSU geführten Bundesregierung unter der Bundeskanzlerin Angela Merkel geschehen. Dies zeigt sich, wenn man zentrale Aussagen des Wahlprogramms der CDU/CSU vom Juli 2005 mit der Realität des Jahres 2021 konfrontiert:

Staatsverschuldung

2005 beklagte das Wahlprogramm der CDU/CSU einen »verhängnisvollen Marsch in den Schuldenstaat«: »Deutschland lebt von der Substanz. Wir leisten uns mehr, als wir leisten. Die Staatsverschuldung liegt mit unvorstellbaren 1,4 Billionen Euro auf Rekordhöhe.« 16 Jahre später beträgt die Staatsverschuldung 2,35 Billionen Euro, von Entschuldung also keine Spur – stattdessen eine Zunahme von 950 Milliarden Euro. Die Quote der Staatsschulden am BIP lag 2005 bei 67 Prozent, 2021 liegt sie bei 71 Prozent. Dabei sind die seitdem neu eingegangenen Risiken und Verpflichtungen gegenüber der EU und der Europäischen Währungsunion noch nicht einbezogen.

Steuerpolitik

Das Wahlprogramm forderte: »Ein neues zukunftsfähiges Steuerrecht ist eines der zentralen Ziele unserer Politik.« Deutschland brauche »einen steuerpolitischen Neuanfang (…) Wir setzen zum 01.01.2007 eine Reform der Einkommen- und Körperschaftsteuer in Kraft. Bei der Lohn- und Einkommensteuer senken wir den Eingangssteuersatz auf 12 Prozent und den Spitzensteuersatz auf 39 Prozent.« 16 Jahre später liegt der Eingangssteuersatz bei 14 Prozent und der Spitzensteuersatz bei 45 Prozent. In der Summe ist der Anteil der Steuern und Sozialabgaben am BIP, die sogenannte Abgabenquote, von 37,9 Prozent auf 40,6 Prozent gestiegen. Mit diesem Anstieg der Abgabenquote hat der von einer CDU-Bundeskanzlerin geführte Staat seine Hand auf jährlich 96 Milliarden Euro gelegt, die sonst in den Taschen der Bürger verblieben wären. Außerdem ist der Staatshaushalt durch die niedrigen Zinsen in gigantischer Weise entlastet worden. Im Vergleich zu 2005 beläuft sich dieser Entlastungsbetrag auf jährlich 70 Milliarden Euro. Dieses Polster wurde vollständig verbraucht für die Finanzierung der unablässig steigenden Sozialausgaben.

Wirtschaftswachstum, Produktivität

Das Regierungsprogramm von 2005 beklagte: »Deutschland hat seine wirtschaftliche Dynamik verloren. Das durchschnittliche Wachstum der letzten sieben Jahre hat sich gegenüber 1990–1998 fast halbiert. (…) Deutschland zehrt von seiner Substanz.« 16 Jahre später muss man feststellen, dass das älter werdende Deutschland nach wie vor nur langsam wächst. Im internationalen Vergleich verliert die deutsche Wirtschaft ständig an Gewicht. Insbesondere die Arbeitsproduktivität hat in der Regierungszeit Angela Merkels mit einem durchschnittlichen jährlichen Wachstum von 0,5 bis 1 Prozent nahezu stagniert. Die in den letzten Jahren verstärkte Zuwanderung hat offenbar das Produktivitätswachstum nicht positiv beeinflusst.

Digitalisierung

Im Regierungsprogramm hieß es 2005: »Wir bauen E-Government zu einem umfassenden Angebot für Unternehmen und Bürger aus. (…) Wir wollen dem Bürger die staatlichen Verwaltungsleistungen rund um die Uhr ohne Gang zur Behörde erschließen. Nicht die Bürger sollen laufen, sondern die Daten.« 16 Jahre später und mit den Erfahrungen der Corona-Pandemie bieten solche Sätze einen Anlass zur Heiterkeit. Nicht zuletzt aufgrund des übertriebenen und falsch angelegten Datenschutzes droht Deutschland zu einem digitalen Entwicklungsland zu werden. Es fand sich offenbar anderthalb Jahrzehnte lang niemand in der von Angela Merkel geführten Bundesregierung, der die Kraft gehabt und sich die Mühe gemacht hätte, die technischen Möglichkeiten der Digitalisierung und die Belange des Datenschutzes sinnvoll miteinander zu verbinden. Dazu reicht es jedenfalls nicht, eine verdiente Abgeordnete, die ein politisches Amt bekommen sollte, zur »Staatsministerin für Digitalisierung« im Kanzleramt zu machen und ansonsten den Dingen ihren Lauf zu lassen. Was dabei herauskommt, sieht man am langen Leidensweg für die elektronische Gesundheitskarte.

Kernenergie

Im Regierungsprogramm der CDU/CSU hieß es 2005: »Wir brauchen die Kernkraft auch in Deutschland und stellen die Weichen für eine gesicherte Entsorgung. Die Betriebsdauer der deutschen Kernkraftwerke soll sich ausschließlich an der Gewährleistung des größtmöglichen Sicherheitsniveaus jedweder Anlage orientieren. Die durch längere Laufzeiten der Kernkraftwerke resultierende höhere Rendite muss sich auch in niedrigeren Strompreisen niederschlagen Wir wollen eine offene Energie-Forschung, die nichts ausklammert. Ideologische Scheuklappen werfen Deutschland im internationalen Wettbewerb zurück.« Bekanntlich kam es ganz anders, und Angela Merkel stand dabei an der Spitze. Je mehr die Bekämpfung des Klimawandels an sachlicher und politischer Dringlichkeit gewinnt, umso mehr erweist es sich als fatale Fehlentscheidung der deutschen Energie- und Klimapolitik, die grundlastfähige Kernenergie bei der deutschen Energieversorgung prinzipiell auszuschließen. Deutschland geht dabei unter den bedeutenden Industriestaaten auch international einen Sonderweg. Der Generaldirektor der Kernenergiebehörde der OECD, William D. Magwood, sagte im April 2021 zu diesem deutschen Sonderweg: »Das wesentliche Ziel ist es, die Weltwirtschaft zu dekarbonisieren. Und ich bin mir absolut sicher, dass Kernenergie dabei eine große Rolle spielen wird. (…) Es ist gar keine Frage, ob die Kernenergie in Zukunft eine Rolle spielt – die einzige Frage ist, welche Art von Reaktoren langfristig wo gebaut wird. (…) Deutschland manövriert sich gerade in eine unglückliche Situation, weil es seine Forschung, seine Lehre und sein Wissen verliert. Und sollten die Deutschen in 20 Jahren feststellen, dass angesichts des steigenden Strombedarfs und der höheren Anforderungen an die Dekarbonisierung an der Atomkraft kein Weg vorbeiführt, dann müssen sie die Technologie zu hohen Kosten aus dem Ausland kaufen und haben vielleicht nur wenige Optionen, welche Technologien sie kaufen und von wem sie diese erwerben können.«

Zuwanderung

Im Regierungsprogramm hieß es 2005: »Es gibt (…) Zuwanderer aus fremden Kulturkreisen mit erheblichen Integrationsdefiziten. Weit überdurchschnittliche Arbeitslosenquoten, viele Migrantenkinder ohne schulischen Abschluss, Ghettobildung und eine Entwicklung von Parallelgesellschaften und eine häufig selbst gewählte Abgrenzung ausländischer Jugendlicher von der deutschen Gesellschaft sind Alarmsignale für den sozialen Frieden im Land. Das Zuwanderungsgesetz allein kann die strukturellen Integrationsdefizite nicht beheben. (…) Wir werden die Zuwanderung in den Arbeitsmarkt auf Mangelberufe und auf Ausländer begrenzen, die in Deutschland zu Spitzenleistungen in Wissenschaft und Forschung, Wirtschaft und Kultur beitragen können.« Diese Text trug damals die Unterschrift der Parteivorsitzenden Angela Merkel. Im Jahre 2021 – 16 Jahre später – würde eine Partei, die solche Sätze in ihr Wahlprogramm aufnimmt, von vielen Medien des Rechtsradikalismus verdächtigt werden. Da muss man sich nicht wundern, wenn viele frühere Wähler und viele Mitglieder der Union, die auch heute noch ähnliche Ansichten haben, sich in der CDU/CSU heimatlos und von Angela Merkel ganz persönlich getäuscht fühlen. Diese Beispiele zeigen: Angela Merkel hat in ihrer langen Regierungszeit zahlreiche – und gerade die wesentlichen – Aussagen des Regierungsprogramms, mit dem sie 2005 an die Macht gekommen war, in ihr Gegenteil verkehrt. Sie ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie flexibel ein machtbewusster Politiker sein kann und wie gut die Wähler und Bürger daran tun, wenn sie jenen Politikern, die um ihre Stimmen werben, zunächst einmal gar nichts glauben. Angela Merkel war bei dieser umfassenden Abwendung von ihrem ursprünglichen Regierungsprogramm keine Getriebene. Ihr tragendes Prinzip waren offenbar nicht irgendwelche Inhalte, sondern der Erwerb und die Sicherung politischer Macht. Sie hat ihr Verweilen in der Sphäre der Macht mit System dadurch verlängert, dass sie immer rechtzeitig die Witterung des Zeitgeists aufnahm und sich ihm so fügte, wie sie ihn interpretierte. Um ein berühmtes Bonmot aus der amerikanischen Präsidentschaftswahl 1961 aufzugreifen, das damals gegen den republikanischen Kandidaten Richard Nixon gerichtet war: Von dieser Frau würde ich keinen gebrauchten Wagen kaufen. In den letzten 16 Jahren hätte Angela Merkel an den oben aufgezeigten strategischen Weggabelungen der deutschen Politik anders entscheiden können, als sie es getan hat. Dass sie sich so entschied, wie sie entschied, prägt unsere Gegenwart und unsere Zukunft. Das Wirken Angela Merkels ist der Beweis dafür, dass Politik auch in der Gegenwart wesentliche Räume eigener Gestaltung hat. Es ist eben keineswegs gleichgültig, welche Personen hohe Staatsämter innehaben. Für die eher linksgerichtete Hälfte von Bevölkerung und Wählerschaft war Angela Merkel die beste Kanzlerin, die sie haben konnte. Für die Grünen war sie ein Lebenselixier. Für die SPD und möglicherweise auch für die Zukunftschancen der CDU wurde sie zum Todesengel. Die radikale Abgrenzung von der AfD macht die CDU auf lange Sicht zum babylonischen Gefangenen linker und grüner Koalitionspartner, ohne die sie weder im Bund noch in den Ländern regieren kann. Leider hat die AfD die ihr vom Wähler zugewiesene Korrekturfunktion durch radikale Tendenzen und Deutschtümelei behindert. So wurde sie zum universalen Sündenbock deutscher Politik. Darüber sollte nicht in Vergessenheit geraten, dass die AfD ihre Entstehung und ihre relative Stabilität in der Wählergunst ausschließlich der Politik Angela Merkels verdankt.

„Wir schaffen das“ erschien am 15. Juli 2021 im Münchner Langen Müller Verlag. Preis: 20,00 Euro.

Foto „Thilo Sarrazin-9438“ von Franz Johann Morgenbesser unter der Lizenz CC BY-SA 2.0 via Flickr

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