Wir leben im dritten Jahr hintereinander im Krisenmodus – Corona, Klima, Energie, Ukraine-Krieg, Inflation und politische Systemkonflikte. Berechtigte Sorgen machen sich breit und viele wollen wissen, wie viel Krise wir noch aushalten können. Dahinter verbirgt sich schlicht die Frage: Wie steht es um unseren Wohlstand? Ist der noch gesichert? Mit wem können wir in Zukunft noch zusammenarbeiten? Und wird es ganz ohne Schurken gehen?
Ein Gastbeitrag von Ex-Außenminister Sigmar Gabriel.
Deutschland ist eines der wohlhabendsten Länder der Welt. Es ist Exportweltmeister. 36 Prozent unserer Wirtschaftsleistung stammen aus dem Export. Das garantierte, dass wir relativ unbeschadet durch die Großkrisen der letzten Jahrzehnte wie Finanz-, Euro- und Corona-Krise kamen. Im Gegensatz zu anderen Staaten konnten wir uns großzügige Stützungsprogramme leisten.
Wir müssen uns aber auch ehrlich machen. Diesen Wohlstand haben wir uns nicht nur durch fleißige Arbeit, Ideenreichtum und Ingenieurleistungen erarbeitet. Wir profitierten über Jahrzehnte auch von der weltweiten Ausbeutung der Natur, von billigen Arbeitskräften in aller Welt und der Jagd nach den stets günstigsten Rohstoffen. Wirtschaftsminister Ludwig Erhardt erkannte bereits in den 50er-Jahren das Potenzial Asiens und Lateinamerikas als Wirtschaftsmärkte mit einer rosigen Zukunft für Deutschland. Dort Rohstoffe günstig erwerben, fertige Produkte liefern und so den heimischen Wohlstand mehren – das war das Diktum und auch Basis für das Wirtschaftswunder. In den 80er-Jahren wurde dafür der Begriff der Globalisierung erfunden: Internationale Arbeitsteilung und weltweite Vernetzung von Lieferketten. Globaler Profit für alle.
Alte Gewissheiten gelten nicht mehr
Ob Demokrat, Despot oder Diktator, mit wem man handelte, war nicht von großer Bedeutung. Chinas später folgende Industrialisierung war für deutsche Unternehmen und den Staat ebenfalls ein lohnendes Milliardengeschäft. Letztlich hat auch billiges russisches Gas geholfen, uns zum Exportweltmeister zu machen, die Gewinne aus dem Geschäft haben zum Ausbau unseres Sozialstaates beigetragen. Wie wir jetzt wissen, uns aber auch verletzlich und erpressbar gemacht. Auch das gehört zur Wahrheit.
Mit dem barbarischen Überfall Russlands auf die Ukraine haben sich die Welt und bisher geltende Gewissheiten geändert. In einer durchweg friedlichen Welt die Globalisierungsgewinne einstreichen zu können und von äußeren Krisen verschont zu bleiben, das gilt nicht mehr. Es gilt eine neue Dialektik der Welt. Ja, wir alle werden durch den Krieg ärmer. Ohne Kosten für die gesamte Gesellschaft werden wir nicht durch diese Zeit kommen. Ja, diese bisher geltenden deutschen Dogmen werden zu Grabe getragen: Niemand muss verzichten, unser Wohlstand ist sicher, wir sind die Guten. Und ja, das wird uns einiges abverlangen. Zwar will eine große Mehrheit der Deutschen ein sofortiges Gas-Embargo, gleichzeitig aber lehnen ebenso viele erforderliche Einschränkungen ab. Putin soll sanktioniert werden, aber einen Preis dafür wollen nur wenige Unternehmen und nur eine Minderheit der Zivilgesellschaft zahlen. Selbst geringste Einschränkungen wie ein Sonntagsfahrverbot oder ein Tempolimit werden vehement abgelehnt. Duschen, aber mach mich nicht nass – das geht nicht!
Und es geht bei Weitem nicht nur um Gas und Öl. Im 21. Jahrhundert wird alles zur Waffe – Mobilfunk, Energieversorgung, seltene Erden. Je stärker die Nationen im globalen Handel aufeinander angewiesen sind, desto größer ist der Anreiz, diese Abhängigkeiten zu instrumentalisieren. Darauf müssen wir reagieren. Im Konflikt mit Russland, in unseren Beziehungen und bedenklichen Abhängigkeiten zu China. Aus Russland beziehen wir je ein Fünftel unseres Aluminiums, Kupfers und Eisenerzes, 40 Prozent Nickel. Aus China 93 Prozent des Magnesiums und Wismut, gar 98 Prozent seltener Erden. Ohne diese Rohstoffe keine Auto- und Handyproduktion, kein Hausbau, weder Computer noch Waschmaschinen würden laufen, kein Windrad sich drehen. Schon die Pandemie hat die Fragilität unserer Lieferketten gezeigt. Sollte China, aus welchen Gründen auch immer, mit einem Rohstoffembargo agieren, es wäre verheerend für unsere Wirtschaft. Die Chip- und Autoproduktion stände still. Fehlendes Lithium würde die Produktion von Batterien und Solarpanels lahmlegen. Adieu Energiewende!
Das gleiche gilt selbstredend für die Exporte deutscher Unternehmen. Wenn jeder dritte Euro durch Warenlieferungen ins Ausland erwirtschaftet wird, beruhen Wachstum und Wohlstand auch auf dem Handel mit Despoten, Diktatoren und Autokraten. Und wie schnell ein Wechsel vom demokratischen EU-Fan zu einer Anti-EU, Anti-NATO und Anti-Deutschland Präsidentin gehen kann, hat uns die Wahl in Frankreich doch kürzlich vorgeführt. Es war knapp.
Zurück in die Welt harter Interessenpolitik
Weltwirtschaft ist kein Puppenspiel. Die globale Vernetzung von Arbeit und Handel, kein Kindergarten. In diesem Spannungsfeld sucht die Regierung in einer Art täglichen Marathonlauf verantwortungsvoll nach Lösungen. Manchmal kurzatmig, nicht immer fehlerfrei. Dabei werden bisher geltende Prinzipien über Bord geworfen. Auf dem Weg aus der Abhängigkeit werden weltweit neue Lieferanten und Kunden ausfindig gemacht. Da ist schmutziges amerikanisches Fracking-Gas besser als gar keins. Auch wenn man bevorzugt mit Handelspartnern ins Geschäft kommen will, die auch Wertepartner sind, wird mit Emiren und Despoten gesprochen und gehandelt. Weil es auf der Welt nicht genügend funktionierende Demokratien gibt. Und keine Garantien, dass sie es auf Dauer bleiben. Wie hätte sich ein Wahlerfolg von Marine Le Pen auf Frankreichs Handeln ausgewirkt? Was ist, wenn Donald Trump 2024 wieder zum Präsidenten der USA gewählt wird? In seiner Amtszeit als Präsident hat er mit Strafzöllen auf Stahl und Aluminium aus Europa gezeigt, dass er skrupellos die eigenen Wirtschaftsinteressen durchsetzt. Wir sind zurück in der Welt harter Interessenpolitik. Und wie wir bei Wladimir Putin bitter lernen müssen, ist die Währung nicht immer ökonomischer Natur. Das Streben nach Macht ist wichtiger als der ökonomische Erfolg. Nicht mehr die Geoökonomie bestimmt die Globalisierung, sondern die Geopolitik.
Wir können uns die Mitbewohner in unserem Haus nicht aussuchen. Sie sind zu oft die Hüter über die begehrten Rohstoffe. Bei der UN-Vollversammlung stimmten zwar nur Belarus, Nordkorea, Eritrea und Syrien neben Russland gegen eine Verurteilung des Angriffskrieges. Doch 35 weitere Staaten enthielten sich wie China der Stimme, darunter 17 afrikanische Staaten sowie Indien und Südafrika. Sie repräsentieren die Hälfte der Weltbevölkerung! Auch das ist eine Realität.
Die Bundesregierung setzt bei ihren Entscheidungen auf das möglichst schnelle Lösen der Abhängigkeiten. Diversifizierung und Regionalisierung sind angesagt. Die völlige Unabhängigkeit von russischem Gas wird etwa drei Jahre dauern, meint der E.ON-Chef Birnbaum. Wenn es schneller ginge, umso besser. Aber: Deutschland wird immer von Energie- und Rohstoffimporten abhängig bleiben, die muss von vielen Partnern geliefert werden. Autarkie ist nicht realistisch.
Bei allen Problemen, Sorgen und Fragezeichen in der jetzigen Situation liegt auch eine Chance für Deutschland. Die Energiewende wird nun nicht mehr als nur Klima- und Industrie-, sondern auch als Geo- und Sicherheitspolitik gesehen und deren Entwicklung vorangetrieben. Sie wird sich nicht mit Verboten, sondern mit Ideen durchsetzen. Ein Aktionsplan Energieeffizienz muss aufgesetzt werden. Energieintensive Unternehmen werden schneller nach Alternativen suchen, die Forschung beschleunigen. Konzerne intensivieren bereits ihre Vorhaben, eine Kreislaufwirtschaft mit Rohstoffen wie seltenen Erden, Silizium, Mangan, Gallium ins Leben zu rufen. Recycling wird zum Zauberwort. Wasserstoff wird noch schneller in den Fokus rücken. Afrikanische Staaten werden dafür vermehrt als Partner infrage kommen, weil dort die für die Produktion notwendige Sonnenenergie in Fülle vorhanden ist. So erhält auch dieser Teil der Erde eine neue Chance – Hunger, Flüchtlingsströme könnten verhindert werden. Die Zeiten billiger Energie und Rohstoffe sind vorbei. Die Zeiten der Innovationen und neuer Technologien beginnen. Hier können wir zeigen, was wir können. Und da bin ich ganz bei Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stieglitz: Dieser Weg wird uns Wachstum und Wohlstand zurückbringen. Umwelttechnologie-Weltmeister – das ist doch ein anstrebenswerter Titel für uns.
Bild „Sigmar Gabriel“ von Raul Mee unter der Lizenz CC BY 2.0 via Flickr.