„Auch wenn es vielen nicht gefällt: Deutschland muss kriegsbereit sein.“

Der Militärhistoriker Prof. Sönke Neitzel ist Fachmann für die historische Dimension des aktuellen Krieges in der Ukraine, für militärstrategische Fragen und vor allem: die deutsche Bundeswehr. Seine intensive Forschung auf dem Gebiet der Militärgeschichte macht ihn zu einem gefragten Mann der Medien. Business Beast sprach mit ihm über Putins Strategie, deutsche Sicherheitspolitik und die öffentliche Wahrnehmung der deutschen Soldaten. Er stellt klar, um ihrer Aufgabe in einer Bedrohungslage nachzukommen, muss die Bundeswehr vor allem eines sein: kriegsbereit.

Business Beast: Professor Neitzel, erleben wir gerade eine Zeitenwende, wie sie Europa seit dem zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt hat?

Prof. Sönke Neitzel: Ich denke, dass der Krieg in der Ukraine unberechenbarer ist, als es der Kalte Krieg je war. Es ist in der Tat eine Zeitenwende. Wir lernen gerade wieder mit einer militärischen Bedrohung zu leben. Nach 1990 hatten wir das verlernt. Im Kalten Krieg gab es zwar ein riesiges Waffenarsenal mit viel mehr Atomsprengköpfen als heute. Aber die Akteure dieser Zeit waren berechenbarer. Männer wie Chruschtschow oder Breschnew hatten – ähnlich wie Kennedy oder Reagan – den Zweiten Weltkrieg erlebt. Sie hatten kein Interesse, die Welt in einen Atomkrieg zu stürzen. Was Putin heute vorhat, wissen wir nicht. Wenn er der Ukraine seinen Willen militärisch nicht aufzwingen kann – und danach sieht es aus – könnte er einen Gang zulegen und womöglich Chemiewaffen einsetzen. Wir können Putins Logik heute nur sehr schwer einschätzen.

Seit Langem gibt es die These, wonach wirtschaftlich und politisch verflochtene Staaten keinen Krieg mehr gegeneinander führen werden. Ist sie nun endgültig widerlegt?

Diese These existierte ja schon vor dem Ersten Weltkrieg. Im Grunde wurde sie schon damals widerlegt. Und wer nun Putin aus einer westlichen Rationalität heraus betrachtet, wird sein Handeln ebenso wenig erklären, geschweige denn voraussagen können. Wirtschaftliche Verflechtungen haben die Katastrophe des 24. Februars 2022 nicht verhindern können. Die Einverleibung der Ukraine in den russischen Machtbereich ist für Putin so wichtig, dass er wahrscheinlich sogar schon 2008 Krieg darum geführt hätte, wenn das Land damals in die NATO aufgenommen worden wäre. Daraus folgt auch, dass wirtschaftliche Sanktionen Putin um keinen Deut von seinem Kurs abbringen werden, so wie Sanktionen oder deren Androhung noch nie einen Diktator gestoppt haben.

Können Sie eine historische Parallele zur heutigen Situation erkennen?

Auch wenn man mit Vergleichen sehr vorsichtig sein muss: Der August 1939 könnte eine vergleichbare Situation sein. Als Hitler glaubte, der Westen ist schwach. Er würde zwar energisch protestieren, dem deutschen Angriff auf Polen aber nicht wirklich etwas entgegensetzten. Putin hat das offenbar ähnlich wahrgenommen: Der Westen ist schwach. Sie werden sich beklagen. Sie werden Wirtschaftssanktionen verhängen. Aber sehr viel mehr wird nicht passieren. Nun zeigt sich, dass er unterschätzt hat, dass auch die westlichen Demokratien Russlands Expansionsstreben nicht immer weiter hinnehmen werden. Plötzlich stehen sie geschlossener denn je zusammen.

Wie interpretieren Sie Putins operatives Vorgehen?

Er hat sich verkalkuliert. Jeder Tag, jede Stunde, die die Ukraine weiterkämpft, ist für Putin ein enormes Problem. Der Protest der internationalen Weltgemeinschaft wächst. Putin brauchte eigentlich einen schnellen Sieg. Das ist nicht gelungen. Doch das könnte bedeuten, dass er mit der Zeit immer radikaler wird. Gleichzeitig nimmt der internationale Druck immer weiter zu. Putin gerät also zunehmend in eine Situation ohne einen klaren Ausweg. Zurzeit scheint er noch nicht bereit, Kompromisse einzugehen. Er scheint unverändert entschlossen, diesen Krieg militärisch zu entscheiden.

Mit Blick auf Taiwan: Glauben Sie, der russische Krieg in der Ukraine ist für die Führung in Peking eher Warnung oder Bestätigung?

China beobachtet das mit Sicherheit sehr aufmerksam. Aktuell stütz man Russland politisch und in Zukunft möglicherweise auch immer stärker ökonomisch. Andererseits steht man nicht offen an Russlands Seite – ist also in den Krieg nicht involviert. Aus chinesischer Perspektive könnte ein langer Abnutzungskrieg sogar vorteilhaft sein. Dann ist der Westen stärker mit sich selbst beschäftigt, das würde China sicherlich in die Karten spielen. Aber ich denke, einen militärischen Griff nach Taiwan wird es vorerst nicht geben. Hier wird China sicherlich strategischer vorgehen, als Putin das in der Ukraine getan hat.

Einerseits ist Deutschland seit Langem weltweit führender Rüstungsproduzent und Exporteur. Andererseits ist das deutsche Militär beklagenswert schlecht ausgerüstet. Warum?

Die Verantwortung für die Ausrüstung der deutschen Bundeswehr obliegt dem Bundesverteidigungsministerium, dem Deutschen Bundestag und nicht zuletzt dem Bundeskanzleramt. Vor allem dort hat man 16 Jahre lang nicht den nötigen Willen für eine entschlossene Sicherheitspolitik aufgebracht. Stattdessen wurde gezaudert und moralisiert. Darin liegt sicherlich ein Hauptgrund für die heutige Situation. Außerdem gab es kaum Anlass, diese Position zu hinterfragen. Nach dem Mauerfall dachte man erst mal: Krieg? Deutschland ist doch von Freunden umgeben. Die Bundeswehr wurde also schlichtweg vernachlässigt. Olaf Scholz hat jetzt gezeigt, der Bundeskanzler persönlich übernimmt zum ersten Mal seit Jahrzehnten die Verantwortung für die Bundeswehr. Kein General oder Verteidigungsminister. Nun gilt es zu beobachten, ob er diese Rolle auch ausfüllt.  

Der israelische Historiker Yuval Harari hat in einem Interview mit dem SPIEGEL unlängst erklärt, er könne den deutschen Hinweis auf eine historische Last des Zweiten Weltkriegs nicht mehr hören. Als Jude und Israeli wisse er, dass die Deutschen keine Nazis mehr sind. Deutschland sollte stattdessen aufstehen und Europa anführen. Wie kann Deutschland in der aktuellen Situation und gegeben des Zustands der Bundeswehr jetzt mehr Verantwortung übernehmen?

Es stimmt, dieser falsch verstandene Pazifismus hilft keinem. Den Ernstfall des Krieges nicht mitzudenken, ist schlichtweg töricht. Für Deutschland muss es fortan darum gehen, nicht nur schlaue Strategiepapiere zu verfassen, sondern auch entschlossen zu handeln. Das gilt in vielen Bereichen der Sicherheitspolitik. Die Bundeswehr muss endlich in der Lage sein, ihren Auftrag im NATO-Bündnis zu erfüllen. Es ist einfach nicht akzeptabel, dass Deutschland den eigenen Verpflichtungen nicht nachkommt. Außerdem dürfen in Zukunft geopolitische Fehler wie der Bau von Nord Stream 2, der auch noch gegen alle Allianzpartner durchgedrückt wurde, nicht mehr passieren. Deutschland muss diese geostrategische Kurzsichtigkeit überwinden.

Wird sich das Bild des Soldaten in Deutschland verändern?

Wir werden uns viel stärker auf das Selbstbild der deutschen Soldaten und der Bundeswehr zubewegen müssen. Weil Deutschland militärische Gefahren jahrzehntelang ausgeblendet hat und nur ungern Soldaten in Gebiete entsandte, in denen auch echte Kampfhandlungen drohen können, ist ein verzerrtes Bild entstanden. Der Soldat als „global social worker“ der überall auftritt, wo es Konflikte friedlich beizulegen gilt und wo die Bundeswehr höchstens Beschützer, Vermittler oder Ausbilder ist. Das passte nie zum Selbstbild der Bundeswehr. Das Militär ist eine Welt mit eigenen Werten und Normen, die nicht zuletzt dem Bewusstsein geschuldet sind, dass die Erfahrungen mit Tod und dem Kampf ums Überleben ein Bestandteil des eigenen Berufs sind. Diese Wahrnehmung könnte in Zukunft wieder stärker in den Vordergrund geraten. Auch wenn das Wort vielen nicht gefällt: Die Bundeswehr muss kriegsbereit sein. Auch Demokratien müssen sich militärisch verteidigen können.

Prof. Neitzel, vielen Dank für das Gespräch.

Sein aktueller Bestseller ist unter dem Titel "Deutsche Krieger - Vom Kaiserreich zur Berliner Republik – eine Militärgeschichte" im Propyläen Verlag erschienen (816 Seiten, 35 Euro, ISBN: 978-3-549-07647-7). 

Die Fragen stellte Maxim Zöllner-Kojnov.

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