Marcel Reif: „Gendern? Nur über meine Leiche…“

Am 5. August startet die neue Bundesliga-Saison. Eine ganz besondere, weil sie im November mit der WM im Wüstenstaat Katar unterbrochen wird. Was dort von Reportern erwartet wird, darüber spricht Reporter-Legende Marcel Reif im Interview. Außerdem über Toni Kroos, Frauenfußball, den kommenden Fußball-Weltmeister und vieles mehr.

Business Beast: Worauf freuen Sie sich mehr – auf den Start der Fußball-Bundesliga oder auf die WM im Winter im Wüstenstaat Katar?

Marcel Reif: Eins nach dem anderen. Erst mal auf die Bundesliga. Dann auf die WM – diese Freude aber muss noch wachsen. Das liegt noch weit weg, in vielerlei Beziehung.

Was wird die Herausforderung für die Berichterstattung aus Katar sein?

Jenseits von Klima und anderen äußeren Bedingungen, den Spagat hinbekommen: Was passiert sportlich zwischen Anpfiff und Abpfiff, und worauf muss man wie stark und wie oft eingehen hinsichtlich der Politik im Land und der Menschenrechte. Diese Balance gilt es zu finden, um die Menschen zuhause angemessen zu informieren.

Sie sind nicht mehr auf der großen Bühne als Reporter aktiv, sind aber weiter gefragter Kolumnist und Talkgast. Juckt es Sie nicht doch noch, die großen Spiele, z. B. jetzt die WM live zu kommentieren?

Nein, beim vorletzten Champions-League-Finale in Porto bin ich noch mal vom Rücktritt zurückgetreten und habe für die Schweizer Kollegen kommentiert. Das war’s aber. Für mich ist die Reise zu Ende, es ist alles auserzählt. Ich habe gemerkt, dass ich mich nicht mehr so wie notwendig auf jedes Detail konzentrieren will. Ich schaue jetzt distanziert auf die Spiele. Es ist vorbei.

Schon während des Studiums arbeiteten Sie als freier Reporter in der politischen Redaktion des ZDF. Später als Reporter für heute und heute-journal, Sie waren für das ZDF in London. Danach folgte der Wechsel ins Sportressort. Warum? Und wie hat die Erfahrung aus der Politikberichterstattung Ihre Arbeit als Sportjournalist beeinflusst?

Ich habe Journalismus und das notwendige Handwerk gelernt, das ist auch im Sportjournalismus hilfreich. Sport hat mich immer interessiert, möglicherweise war mir aber auch immer klar, dass Sportjournalismus mehr ist und sein muss als nur ein Spiel mit einem Ball und 22 Jungs in kurzen Hosen.

War es früher leichter, als Sportjournalist zu arbeiten?

Ja, aber es liegt nicht nur daran, dass heute Mediendirektoren, Manager und wer weiß noch alles dazwischengeschaltet sind. Es liegt auch am Medienaufkommen. Früher kamen ein, zwei Journalisten auf einen Sportler zu, heute eine Armada. Das muss man kanalisieren. Alles ist viel größer, lauter geworden. Damit hat der Sport auch seine Wichtigkeit erhöht und das ist dann halt der Preis. Aber es ist kein Alibi dafür, keinen vernünftigen Journalismus zu machen. Wobei – die Überbedeutung des Fußballs ist nicht gesund.

Wie hat sich der Job seither geändert?

Früher fand der Sport am Wochenende statt, dann war Ruhe. Heute wird die ganze Woche gesendet, täglich müssen auf der Glatze Locken gedreht werden. Das wäre nichts für mich. Da hätte mir der Sportjournalismus keinen Spaß gemacht. Aber noch mal: Das reicht nicht als Entschuldigung, keinen guten Journalismus zu machen.

Heute wird die ganze Woche gesendet, täglich müssen auf der Glatze Locken gedreht werden.

Es fällt auf, dass viele Reporter heute die Spiele zutexten, sich auf Spieldaten stützen, dem Zuseher vom 25.000 Einwurf in der Geschichte des Duells erzählen, nicht aber ein Gefühl haben wie „Das Tor liegt in der Luft“ – und kurz darauf fällt es. Ist dieser Eindruck falsch?

Ach, früher war alles besser… Ja, Statistiken sind wichtig, aber sie sind auch viel Wortgeklingel. Heute wollen viele junge Kollegen in jeder Reportage beweisen, dass sie jeden Trainer-Sprech beherrschen, was sie für ein Wissen über den Fußball haben und sie jederzeit in der Lage wären, einen Viert-Ligisten zu trainieren. Wenn meine Schwiegermutter hört „Er geht jetzt auf den zweiten Ball“ fragt sie, ob denn nicht nur mit einem Ball gespielt wird; oder es ist vom „Spiel gegen den Ball“ die Rede – aber wird nicht zwangsläufig mit dem Ball gespielt?

Mit dem Europacup-Halbfinale zwischen Real Madrid und Borussia Dortmund 1998 in Madrid und dem umgefallenen Tor wurden Sie ob Ihrer Reportage zusammen mit Günter Jauch über Nacht auch dem Letzten in Deutschland bekannt. Muss erst wieder ein Tor umfallen, damit man in dem Job berühmt wird?

Muss ein Sportreporter berühmt werden? Ich weiß es nicht. Das klingt uneitel, wobei unsere Zunft schon eitel ist, sonst würden wir uns ja nicht öffentlich produzieren. Aber ich fand es immer herausfordernder, ein Spiel TSG Hoffenheim gegen Darmstadt 98 anständig zu kommentieren. Daran habe ich mich gemessen. Das stand für mich für Leistung. Das umgefallene Tor war Klamauk, für den man sich nicht schämen muss. Ich war einmal richtig krank und bin am Wochenende ausgefallen – aber die haben trotzdem gespielt. Da ist bei mir der Verdacht aufgekommen, dass der Ball möglicherweise auch ohne mich rollen würde…

Fußball ist längst keine Männerdomäne mehr. Im Stadion, auf dem Rasen, bei den Unparteiischen und auch bei den Reportern sind Frauen aktiv. Wie sehen Sie diese Entwicklung?

Auf dem Weg zur Normalität, aber noch lange nicht da. Es gibt zum Beispiel immer noch zu wenig Frauen als Trainer. Eins muss klar sein: Es gibt wie überall Gute und weniger Gute. Auch unter Reporterkolleginnen, denen sage ich es, wenn sie danach fragen. Die Entwicklung insgesamt ist gut, aber unspektakulär. Frauen werden aber nie gegen Männer spielen, wie im Tennis und anderen Sportarten – und das ist gut so. Dazu sind die körperlichen Voraussetzungen einfach zu unterschiedlich. Schnittmengen wird es geben, wenn sie Sinn machen. Aber bitte keine Frauenquote, wie auch in anderen Bereichen nicht.

Und wie halten Sie es mit dem Gendern?

Nur über meine Leiche. Das ist eine Verunstaltung der deutschen Sprache.

Haben Sie Lieblingsreporter, denen Sie gerne zusehen oder zuhören?

Rudi Michel, Dieter Kürten. Sonst halte ich mich daran, mich zu Kollegen nicht zu äußern, so lange ich noch auf dem Feld bin.

Regen Sie sich auch über Kommentatoren so wie Millionen Deutsche wöchentlich auf? Oder haben Sie Verständnis für Kollegen, denen eine Moderation, ein Kommentar misslingt?

Wenn ich denn mal zuhöre, denke ich schon: „Mensch, Junge, Mensch Mädel, halt doch mal die Klappe. Lass mich nur gucken“. Oder wenn ich das Gefühl habe, das Gesagte wird dem Ereignis nicht gerecht. Aber ich höre in der Regel selten genau zu, ich sehe nur hin.

Haben Sie Verständnis für unwirsches Auftreten von Profis in Interviews, wie zuletzt beispielsweise Toni Kroos, der sich in der Stunde des Sieges auf dem Rasen von Paris von einem Reporter provoziert fühlte? Muss sich eine Legende wie er so was überhaupt gefallen lassen?

Niemand muss sich mehr gefallen lassen, als er verkraften kann. Aber der konkrete Fall hat eine eigene Geschichte. Es war keine Provokation, kein Überfall. Es war einfach nur ein misslungenes Interview des von mir sehr geschätzten Kollegen Nils Kaben. Er hat die emotionale Schiene, auf der sich Toni Kroos bewegte, einfach nicht erfasst. Und Toni Kroos hat in dem Moment auch nicht unverschämt reagiert. Das alles lässt sich gewiss schnell aus der Welt räumen.

Ich höre in der Regel selten genau zu, ich sehe nur hin.

Was hätten Sie Toni Kroos nach dem Sieg als Erstes gefragt?

Das ist jetzt etwas billig… Ich hatte Wochen, um mir eine Frage auszudenken. Aber gut: Toni Kroos ist in einem bestimmten Alter. Erstmals war bei einem Finale seine ganze Familie im Stadion. Wahrscheinlich hat er auch gespürt, dass es mit dieser Real-Mannschaft nicht noch einmal so einen Triumph geben wird. Gegen einen starken Gegner mussten sie leiden und waren so am Ende völlig unter Adrenalin. Nils Kaben hat da nach einer sachlichen Analyse gefragt. Darauf einzugehen, dazu war Toni Kroos in dem Moment gar nicht in der Lage. Da ging es ausschließlich um Emotionalität. Bei einer Frage dazu wäre es aus Kroos nur so rausgesprudelt. Die Frage selbst also war keine Frechheit, sie kam nur zur falschen Zeit am falschen Ort an den falschen Mann.

Sie haben rund 1.500 Spiele in Ihrer Laufbahn kommentiert. Welches ist ihnen am stärksten in Erinnerung verblieben?

Jedes Spiel hatte seine Momente. Diesbezügliche Ranglisten zu führen, habe ich mir abgewöhnt. Weil ich sonst enttäuscht gewesen wäre: Ach, heute ist es nicht so gut wie letzte Woche. Ich bin sehr gut mit der Devise gefahren: Das beste Spiel kommt erst noch nächste Woche. Natürlich hat jedes Champions-League- oder WM-Finale seine besondere Bedeutung. Aber ich habe die Demut vor dem normalen Bundesligaspiel nicht verloren. Man kann sich nicht nur die Rosinen rauspicken. Mithin, am Ende meiner Reporterlaufbahn habe ich mich bei dem Gedanken erwischt, du mokierst dich jetzt über Spiele, die deiner offenbar nicht „würdig“ sind. Höchste Zeit, aufzuhören!

Was war der größte Fauxpas in Ihrer Karriere?

Da gibt es zum Glück die Gnade des Vergessens. In jedem Spiel habe ich Quatsch geredet, wo ich heute sagen würde, hättest du lieber nicht gesagt. Aber so richtig kann und will ich mich an keinen schlimmen Bock erinnern.

Welches Interview mit einem Sportler, Trainer oder Manager ist Ihnen am stärksten in Erinnerung verblieben?

Ich habe viele interviewt. Am stärksten in Erinnerung aber ist ein Gespräch mit Diego Maradona auf dem Trainingsplatz: Er hatte dabei seine Tochter im Arm, da war er nicht der Weltstar, die Kunstfigur, sondern hat sich mir als Mensch und Vater erschlossen.

Haben Sie eine europäische Fußballliga, die sie neben den fünf Topligen gerne verfolgen?

Die Schweizer Liga. Weil ich da gearbeitet habe, da lebe und sie mir ans Herz gewachsen ist. Als ich nach meinem Abschied in Deutschland noch einmal mit dem Reporterleben angefangen habe, fragte man mich, ob das nicht sei, als gehe ein Zirkusdirektor zu einem Flohzirkus? Frechheit! Für mich war das kein Gang in die Niederungen, sondern mir wurde der Fußball zurückgegeben – kleiner, übersichtlicher. Dafür bin ich dankbar.

In den deutschen Nationalmannschaften, von der Jugend angefangen, stehen vermehrt Aktive mit migrantischem Hintergrund. Welche Erklärung haben Sie dafür?

Der Trend, dass mehr Aktive mit migrantischem Hintergrund in unseren Teams spielen, spiegelt ja nur unsere multikulturelle Gesellschaft wider. Zugleich aber auch, dass dieser Weg für viele ein Ansporn ist, sich für eine Karriere anzustrengen, zu quälen. Auch für unseren Fußball sind sie eine enorme Bereicherung.

Wie kann man dem gleichzeitig zunehmenden Rassismus auf den Rängen entgegentreten, der sich ja auch verstärkt bei Spielen jüdischer Vereine wie Maccabi zeigt?

Auf den Rängen haben wir ja folgende skurrile Situation: Der dunkelhäutige Spieler der Heimmannschaft wird als Fußballgott gefeiert, der im gegnerischen Team hingegen beleidigt, rassistisch verunglimpft. Mir ist bei diesem Thema zu viel Toleranz über zu viele Jahre geübt worden. Wenn man den falschen Leuten den kleinen Finger gibt…. Es muss zur Kenntnis genommen werden, dass das Stadion kein rechtsfreier Raum ist. Fußball ist Teil der Gesellschaft – da darf es im Stadion nichts geben, was woanders strafbar ist. Wer sich strafbar macht, sollte bestraft werden.

Wie schätzen Sie die Entwicklung des nichteuropäischen Fußballs ein?

In Lateinamerika ist er die Nummer eins und wird es auch bleiben. Es bleibt zu wünschen, dass die Ligen so stark werden, dass ihre Talente nicht schon als Kinder nach Europa geholt werden. In den USA wird Fußball weiter eine Randsportart bleiben, allein schon, weil der TV-Kalender randvoll ist mit anderen Sportarten. Afrika wird immer besser. Aber auch da ist der Aderlass an Talenten riesig. Die Spieler werden nach Europa verschachert und landen oft im Nichts. Aber die Begeisterung für den Fußball ist dort riesig.

Die Super-League ist alternativlos!

Was denken Sie über die jüngste Regeländerung in der niederländischen Liga: Einschuss statt Einwurf, Selbstpass beim Freistoß, Zeitstrafe, Nettospielzeit, unbegrenzte Wechselmöglichkeiten. Ist das eine gute Weiterentwicklung des Fußballregelwerks?  

Alles, was dient, dass das Spiel zügig vorangeht, dass etwa Missbrauch wie Zeitspiel aufhört, ist gut. Wenn nur rumgedocktert wird, ist das nicht gut. Fußball war immer einfach, ist einfach, soll einfach bleiben.

Vor rund zwei Jahren prognostizierten Sie in einer Kolumne, der Fußball werde sich auf Dauer aufspalten. Ein amerikanisches Modell in der Spitze, darunter weitere Ligen. Nach den Ereignissen rund um eine sogenannte Super-League vor knapp einem Jahr, deren Nachbeben bis heute anhalten – sind wir der Aufspaltung des europäischen Spitzenfußballs nähergekommen oder wieder etwas weiter entfernt? Wohin bewegt sich der Fußball?

Ich bin fest davon überzeugt, eine Super-League ist alternativlos! Der erste Versuch war nur schlecht gemacht, sie wird kommen. Hansa Rostock und Bayern München in eine Liga zu pressen, macht keinen Sinn. Aber dann wird die Frage, wer Deutscher Meister wird, wieder spannend. Bayern München jedenfalls nicht.

Letzte Frage an den Fachmann: Wer wird Fußball-Weltmeister und wer Deutscher Meister 2022/23?

Die Bayern, wenn sie nicht beschließen, es nicht zu werden. Weltmeister? Die üblichen Verdächtigen: Spanien, Frankreich, vielleicht Brasilien. Die Deutschen? Es ist nicht verboten, aber zu den Topfavoriten zählen sie für mich nicht.

Herr Reif, vielen Dank für das Gespräch.


Die Fragen stellten Klaus Kimmel und Maxim Zöllner-Kojnov.

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