Mr. TUI Michael Frenzel: Geht die Ferien-Industrie baden?

Die Tourismuswirtschaft kämpft weltweit gegen ihre schwerste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Zwar ist jetzt – fast 15 Monate nach dem ersten Lockdown – endlich das berühmte Licht am Ende des Tunnels zu erkennen, aber die Bilanz für eine der wichtigsten Branchen nicht nur in Deutschland ist bitter.

Ein Gastbeitrag von Michael Frenzel.

Nach vielen Monaten im Lockdown sind die Reserven aufgebraucht. Das politische Abraten – Verteufeln – vom Reisen war zermürbend für Unternehmer wie Kunden. Einige Branchenbereiche durften sogar seit Beginn der Pandemie im März 2020 ihr Geschäft nicht mehr aufnehmen. Der Tourismuswirtschaft wurde ein massives Sonderopfer auferlegt und zugemutet, um andere Bereiche offen halten zu können.

Tourismus ist und bleibt ein starker Wirtschaftsfaktor und einer der größten Arbeitgeber – mit drei Millionen Beschäftigten allein in Deutschland und fast 300 Millionen weltweit. Unsere Branche ist ein gewichtiger Wirtschaftsfaktor und wir sind eine Friedensbranche, die den interkulturellen Dialog fördert und fordert.

Noch mehr Zahlen? Noch mehr Zahlen!

Die Branche trägt rund vier Prozent zur Bruttowertschöpfung in Deutschland bei. Die Konsumausgaben der Touristen in Deutschland betragen jährlich fast 300 Milliarden Euro. Die Deutschen sind jedes Jahr fast 1,7 Milliarden Tage im Rahmen privater Tages- und Übernachtungsreisen unterwegs. Damit ist jeder im Schnitt mehr als 20 Tage pro Jahr auf Reisen. Auf deutschen Flughäfen starteten und landeten in Vor-Corona-Zeiten mehr als 220 Millionen Fluggäste. Die Eisenbahnen beförderten zuletzt rund drei Milliarden Passagiere. Die Reisebusunternehmen verzeichnen jährlich rund 100 Millionen Busreisen mit einem Umsatz von etwa 1,4 Milliarden Euro. Allein die rund 220.000 Betriebe in Hotellerie und Gastronomie setzen pro Jahr mehr als 80 Milliarden Euro netto um. Die Deutschen geben jährlich mehr als 70 Milliarden Euro für Auslandsreisen aus.

Michael Frenzel war fast 20 Jahre Vorstandschef des Reiseveranstalters TUI.

Das alles ist durch eine verheerende Corona-Politik und ein fatales Krisenmanagement auf ein – fast nichts mehr übrig – zusammengeschmolzen. In Summe sind hunderttausende von Existenzen gefährdet – oder bedroht.

Drei Aspekte sind wesentlich beim Weg in und aus der Krise. Erstens: Unsere Unternehmen, die Sonderopfer zum Wohl der Gesellschaft bringen, mit finanziellen Hilfen über Wasser zu halten. Zweitens: Endlich Lösungen zu finden, die mit und trotz Corona ein Maximum an öffentlichem Leben, Freizeit und Tourismus garantieren. Denn das Virus wird uns noch lange begleiten. Modellprojekte wie jetzt auf Sylt können und müssen ein erster Schritt sein. Und drittens: Ein Masterplan als Konzept und Blaupause für künftige Krisen, der spätestens nach dem Wiederaufbau auf die Tagesordnung gehört.

Marshall-Plan für den Tourismus

Ein erfolgreicher Neustart des Tourismus sollte nicht nur der Branche, sondern gerade auch der Politik ein wichtiges Ansinnen sein. Denn Tourismus ist mehr als nette Freizeitbeschäftigung. Er ist weltweit eine starke Wirtschaftskraft und einer der größten Arbeitgeber. Tourismus ist eine Friedensbranche, die Völkerverständigung und interkulturellen Dialog fördert.

Diese Werte zu sichern und wieder zu stärken, gehört weit oben auf die politische Agenda.

Dafür müssen in einem ersten Schritt die touristischen Strukturen im In- wie Ausland vor dem Kollaps bewahrt werden. Sorgen bereiten hierzulande gerade auch die kleinen und mittleren Betriebe – das Hotel garni, der traditionelle Gasthof, das Busunternehmen auf dem Lande oder das Reisebüro in der Innenstadt. Viele von ihnen Familienbetriebe, die über Generationen hinweg erfolgreich waren und nun unverschuldet in Not geraten sind. Ihre Einnahmen tendieren seit Monaten gegen Null, die Margen sind ohnehin schmal. Kredite lasten schon jetzt auf vielen Schultern. Und die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht wird nicht ewig verlängert.

Die Tourismuswirtschaft erwartet von der Politik finanzielle Hilfen, die dem Sonderopfer gerecht werden, das die Branche schon seit so vielen Monaten erbringt. Entschädigungen für die vom Staat verursachten Versäumnisse sind das Mindeste. Wir erwarten aber auch endlich ein (Öffnungs-)Konzept, mit dem diese Unternehmen (wieder) festeren Boden unter den Füßen bekommen. Lockdown in höchster Not – okay. Aber jetzt muss es endlich darum gehen, mehr anzubieten, als grundsätzlich vom Reisen abzuraten. Kreativere und mutigere Lösungen im Umgang mit unserer Branche sind gefragt. Lösungen hin zu einem Leben, das Mobilität, Freizeit und Erholung trotz Virus möglich macht. Im Zusammenspiel von Tourismus, Politik, Technik und Wissenschaft.

Impfen, testen, digitalisieren

Es geht im Kern darum, schnellstmöglich wieder Freiheiten zurückzugeben. Reisen und Ausgehen wieder zuzulassen. Und das nicht nur für Geimpfte. Ungeimpft darf nicht bedeuten, ein- oder ausgesperrt zu werden. Kontraproduktiv ist in diesem Zusammenhang das Grünen-Verbot für Kurzstreckenflüge

Das Wiederöffnen unserer Betriebe dient nicht nur ihnen selbst, sondern der Wirtschaft insgesamt und vielen Partnern der Branche, die vom Tourismus profitieren. Touristische Ausgaben beschränken sich nicht auf Hotels, Restaurants oder Reisebüros, Strandkorbvermieter und Skiverleiher. Sie kommen auch dem ÖPNV, Einzelhändlern oder Kultureinrichtungen und mittelbar sogar den Handwerkern vor Ort zu Gute. Ganze Regionen, viele Innenstädte und historische Kleinstädte leben vom Tourismus – und leiden, wenn der Tourismus stillsteht.

Der von Corona erzwungene Neustart bietet unserer Branche immerhin auch die Chance, erkannte frühere Schwachstellen zu reduzieren. Lösungen mitzudenken, die zum Beispiel „Overtourism“ vermeiden helfen. Mehr auf Smart, Safe und Seamless Tourism zu setzen. Dem Thema Klimaschutz mit neuen und innovativen Ideen und Maßnahmen zu begegnen und diese in Restart-Konzepten zu implementieren.

Eine Pandemie ist wie sie ist. Aber sie wird auch zu dem, was wir daraus machen.


Foto: Tùng Hoàng / World Travel & Tourism Council / Flickr.

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