Wie stark ist Deutschland noch?

Prof. Dr. Ing. Wolfgang Reitzle war viele Jahre Vorstandsvorsitzender der Linde AG und ist seit 2016 Aufsichtsratsvorsitzender der Linde plc. Seit 2009 ist er Aufsichtsratsvorsitzender der Continental AG. Er ist außerdem Mitglied im Aufsichtsrat der Axel Springer SE. Auf dem FDP-Parteitag, eine Woche vor der Bundestagswahl 2021, legte er in einer Begrüßungsrede seine Sicht auf die Herausforderungen der deutschen Wirtschafts- und Energiepolitik dar. Er erklärte, warum Deutschland sich endlich vom Gebot der Mittelmäßigkeit abwenden muss. Seine Analyse könnte nicht treffender sein.

Sie kommt schnell unter die Räder – die Freiheit. Und ich fürchte: Das Corona-Virus ist und bleibt nicht die einzige Bedrohung in dieser Hinsicht. Vor allem dann nicht, wenn jene zum Zuge kommen, die jetzt, nach dem Corona-Lockdown, schon vom „Klima-Lockdown“ träumen.

Als könnten wir diese große globale Menschheitsaufgabe auf diese Weise lösen: Mit einseitiger Regulierung oder mit vorgeschriebenen Entwicklungspfaden. Stattdessen müssen wir endlich begreifen: Das Klima retten wir entweder global oder gar nicht.

Und wir retten es nur, wenn wir den Wettbewerb um die besten Technologien fördern und der Transfer dieser Technologien in die Welt gelingt. Für mich jedenfalls ist das nach mehr als vier Jahrzehnten im Dienst internationaler Unternehmen mehr als offensichtlich. Und ich will dazu gerne einige Erfahrungen mit Ihnen teilen.

Nehmen Sie zum Beispiel das Thema Wasserstoff. Es begleitet mich beruflich schon seit Jahrzehnten. Und die Chancen dieser Technologie sind enorm. Trotzdem setzten wir heute fast ausschließlich auf Batterietechnologie.

Wie kommt das?

Nun, es kommt durch die politischen Rahmenbedingungen. Dadurch, dass man eben nicht gesagt hat: „Mal sehen, welche Technologie sich durchsetzt“. Sondern: „Wir wissen im Vorhinein, was am besten ist.“ Nämlich: die Batterie!

Die Folge ist: In der Autoindustrie bleibt kein Stein auf dem anderen. Hunderttausende alte Arbeitsplätze sind gefährdet. Für viele tausend neue Jobs fehlen die qualifizierten Leute. Kriegen wir das trotzdem hin? Ja, irgendwie schaffen wir das, würde Angela Merkel sagen. Aber zu einem hohen Preis.

Nun könnte man argumentieren:

„Ja, dann ist das eben der Preis, den wir zahlen müssen. Schließlich retten wir hier das Klima.“ Aber das ist ein merkwürdiges Argument. Und zwar in zweierlei Hinsicht.

Erstens: Selbst, wenn wir auf diese Weise das Klima retten würden. Wie können wir denn den sozialen Frieden und die Freiheit des Einzelnen wahren, wenn dieses Land durch eine verengte Klimapolitik Schritt für Schritt deindustrialisiert wird?

Noch merkwürdiger aber wird das Argument, wenn wir uns zweitens klar machen:

Ganz gleich, wie weit wir hier gehen mit der Deindustrialisierung. Ganz gleich, ob wir am Prenzlauer Berg mit dem Lastenrad zum Einkaufen fahren. Das Klima retten wir mit all dem eben leider nicht. Der Zweck, der alle Mittel heiligen soll, wird durch diese Mittel gar nicht erreicht!

Ein vollelektrischer Pkw zum Beispiel, der seinen Strom aus einer deutschen Steckdose lädt, fährt nicht CO2-frei. Im Gegenteil: Unser Strommix ist nicht nur besonders teuer. Er ist auch besonders schmutzig (CO2-lastig). Und wenn demnächst das letzte Atomkraftwerk vom Netz geht, wird er für lange Zeit noch schmutziger.

Aber vielleicht geht es ja in Wirklichkeit auch weniger ums Klima. Und mehr um ein anderes Gesellschaftsmodell. Das merkt man, wenn man bei den diversen Rettungsplänen für’s Klima mal genauer nachhakt.

Für klimaneutralen Windstrom zum Beispiel sind angeblich nur zwei Prozent der Fläche Deutschlands nötig. Das liest und hört man immer wieder. Wer das aber unter wirklich realistischen Annahmen durchrechnet, wird feststellen: Das ist so gar nicht darstellbar.

Zwei Prozent – das reicht nur dann, wenn wir künftig weniger Strom verbrauchen statt mehr, aber schon gar nicht, wenn immer mehr Bereiche des Energiesystems elektrifiziert werden sollen. Es reicht nur, wenn wir in einer Gesellschaft des Verzichts leben wollen, also eine Rolle rückwärts machen zum simplen Leben.

Wer das aber nicht will, wer Wohlstand wahren und Deutschland als Industrieland erhalten will, der muss einsehen:

Deutschland kann sich nicht autark mit regenerativer Energie versorgen. Wir brauchen Importe von günstigem grünem Strom bzw. grünem Wasserstoff und seinen Derivaten. Alles andere ist ein Irrweg, der Milliarden kostet.

Dass es teuer wird, bestreiten ja selbst Befürworter dieses Weges nicht. Aber anders als Sie und ich machen sie sich darüber keine Sorgen. Denn sie glauben an die „Modern Monetary Theory“, sprich: an die Notenpresse – an das Schöpfen von Geld aus dem Nichts. Wo das hinführt, sehen wir bei der EZB: Es führt in die Schulden- und Transferunion. Es führt zur Inflation. Und irgendwann führt es zur Destabilisierung des Euro.

Aber all das sind Argumente, die es offenbar schwer haben gegen das mittlerweile weit verbreitete Schuld-Narrativ. Es lautet: Wir haben uns an der Natur versündigt, also schuldig gemacht. Deshalb müssen wir jetzt Opfer bringen. Opfer aber sind nur dann echte Opfer, wenn sie weh tun. Also: Je größer der Schmerz, je mehr Einschränkung und Verzicht, umso besser dürfen wir uns fühlen.

Und dann müssen wir gar nicht mehr zur Kenntnis nehmen, dass bis 2050 rund 2,5 Milliarden mehr Menschen auf der Erde leben werden, dass China alleine in 2019 fast genauso viel Kohle-Kapazität neu aufgebaut hat, wie wir bis 2038 vom Netz nehmen wollen (40 Gigawatt). Dass in den nächsten Jahren weltweit noch einmal bis zu 290 Gigawatt hinzukommen könnten – also sieben Mal mehr als die Kohlekraftwerke, die wir hier abschalten. Dass in Afrika heute 600 Millionen Menschen keine Steckdose besitzen, aber berechtigterweise schon sehr bald eine haben werden, und ein Großteil des Stroms aus diesen Steckdosen aus neuen Kohlekraftwerken stammen wird, die wiederum China nach Afrika liefert.

An dieser Stelle fragen wir uns dann natürlich alle: „Ja, aber sollen wir denn deshalb gar nichts tun? Doch, natürlich! Aber wir sollten uns dabei immer klar machen: Unsere Situation gleicht der eines Schiffes, das zu sinken droht. Dabei läuft das Wasser vorne und hinten gleichzeitig rein. Allerdings ist das Loch vorne – bei uns – viel kleiner als das Loch hinten in China, Asien und Afrika.

Welchen Sinn ergibt es da, dass wir fast all unsere Zeit, fast all unsere Kraft und all unsere Ressourcen darauf verwenden, das kleine Loch hier in Deutschland zu schließen? Warum konzentrieren wir uns nicht auch und besonders auf das große Loch? Wer so viel Wert darauf legt, dass auch kleine Beiträge zum Klimaschutz zählen, der muss doch große Beiträge besonders begrüßen.

Was also ist zu tun? Ich habe vier Vorschläge, die auf realitätsbezogenen Berechnungen beruhen, auf Technologieoffenheit und Marktwirtschaft.

Erstens: Die effizientesten Technologien dort einsetzen, wo sie die größte Wirkung entfalten – zum Beispiel moderne Photovoltaik in den Sonnenwüsten der Welt und Windparks dort, wo die Thermik ideal ist. So können wir grünen Strom günstig und in riesigen Mengen herstellen.

Zweitens: Mit diesem günstigen grünen Strom grünen Wasserstoff erzeugen – und mittelfristig den Aufbau einer weltweiten Wasserstoff-Wirtschaft anstreben.

Drittens: Nutzung der Wasserstoff-Derivate Methan, Methanol und Ammoniak, um Industrieprozesse CO2-frei zu machen. Hier liegt der zentrale Hebel für ein globales Energiesystem, das bezahlbar und zugleich klimaneutral ist; und womit das Speicher und Transportproblem für grüne Energie umfänglich gelöst werden kann. Bei dem wir bestehende Kraftwerke und Industrieanlagen nach einem Umbau weiter nutzen können. Und bei dem wir auch die heute rund eine Milliarde Pkw und rund 300 Millionen Lkw mit Verbrennungsmotor klimaneutral weiter betreiben können – betankt mit synthetischen Kraftstoffen!

Viertens: Wir müssen damit aufhören, den Kauf von Zertifikaten für naturbasierte Klimaschutzlösungen als „Ablasshandel“, „Freikauf-Strategie“ oder „green washing“ zu denunzieren. Weltweiter Klimaschutz braucht massive Aufforstung – genauso wie konsequenten Schutz der noch vorhandenen Wälder.

Eine zweite Erfahrung, die ich mit Ihnen teilen möchte, lautet: Ökonomie und Ökologie gehören zusammen. Nur wer wirtschaftlich stark ist, kann für das Klima hilfreich sein. Wie stark aber ist Deutschland noch? Unsere Produktivität sinkt in den letzten Jahren, anstatt zu steigen.

Bei der Wettbewerbsfähigkeit fallen wir immer weiter zurück: Erst neulich zeigte uns eine Studie auf Platz 17 – von 21. Bei der Innovationskraft landen wir nur auf Platz 9. Und in Sachen Digitalisierung sind wir unter den G20 die Nummer 17!

Man fragt sich: wo sind wir eigentlich überhaupt noch führend? – ganz sicher bei Steuern, Umverteilung und beim Strompreis. Und genau dafür haben einige Parteien konkrete Pläne, diese Führungsposition weiter auszubauen.

Unter dem Strich kann man sagen: Das Bild der Nation ähnelt auf fatale Weise dem Bild der National-Mannschaft, wie sie Hansi Flick von seinem Vorgänger übernommen hat: Schläfrig, einfallslos, führungslos – und international im Abstieg begriffen.

Mindestens 16 Jahre lang wurde in einem ausschließlich gegenwartsbezogenen Politik-Stil vor allem der Status Quo verwaltet – und der Sozialstaat ausgebaut. Anstatt alles daran zu setzen, den Wohlstandskuchen zu vergrößern, also auf Wachstum zu setzen, ersinnen wir immer neue Ideen, ihn vorgeblich gerechter zu verteilen.

Die Staatsquote in Deutschland liegt inzwischen über 50 Prozent. Und soweit ich sehe, gibt es derzeit nur eine Partei, die dagegen ganz grundsätzlich etwas tun will… Alle anderen treten – so oder so – für noch mehr Staat ein. Und nicht für Agilität und digitalen Wandel, den wir so dringend brauchen. Stattdessen hinken wir auch da hinterher.

Wenn Sie aber wissen, dass in fünf Jahren rund 60 Prozent der Wertschöpfung im Autogeschäft aus den Software-Anwendungen kommen; und wenn Sie wissen, dass das gesamte Thema Industrie 4.0, also das “Internet der Dinge“ an der Software hängt, dann müsste eigentlich auch dem letzten Anhänger des Lastenfahrrads und der letzten Bullerbü-Berlinerin klar sein: Wer auch morgen noch einen Kuchen haben will, den er verteilen kann, der sollte sich jetzt schleunigst was einfallen lassen.

Ein solcher Einfall könnte lauten: Mittelstand und Industrie fördern. Endlich ernst machen mit den Erleichterungen bei Steuern, Abgaben, Abschreibungsbedingungen und Bürokratie. Und konsequent auf Marktwirtschaft setzen, weil nur das Arbeitsplätze schafft.

Ein weiterer Einfall, der uns wieder nach vorne bringen könnte, wäre: Konsequent Bildung und Leistung fördern. Damit meine ich nicht nur die Laptops, die wir in den Schulen brauchen. Oder die WLAN-Anschlüsse. Und die Milliarden-Investitionen in neue Gebäude.

Ich meine vor allem die Erkenntnis: Es gibt keinen Wohlstand ohne Leistung. Weder für den Einzelnen. Noch für die Gesellschaft insgesamt. Sondern: Wohlstand braucht Fleiß, Anstrengung, Top-Talente. Und eine Bildungspolitik, die diese Talente erkennt und sie gezielt fördert. Lassen Sie uns Schule und Hochschule doch wieder klar und deutlich an diesem Prinzip ausrichten.

Wir brauchen den Mut zur Leistungsorientierung und zur Absage an Mittelmäßigkeit und Durchschnitt. Denn damit werden wir die Probleme des 21. Jahrhunderts ganz sicher nicht lösen – schon gar nicht das Klima retten! Deshalb brauchen wir ein Umdenken. Deshalb braucht Deutschland einen starken Liberalismus.


Bild „DLD14 Chairmen´s Dinner“ von Hubert Burda Media unter der Lizenz CC BY-NC-SA 2.0 via Flickr.

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