„Wir müssen warten, ob es einen Waffenstillstand gibt.“

Harald Kujat, General a. D. und ehemaliger Generalinspekteur der Bundeswehr, sprach mit Business Beast über den Krieg in der Ukraine, Russlands politische Isolation und die deutsche Verteidigungsfähigkeit. Er meint: Die höchste Priorität hat derzeit ein Waffenstillstand. Ernsthafte Verhandlungen können erst danach folgen. Die russische Forderung nach verbindlichen Sicherheitsgarantien hält er nicht für umsetzbar.

Business Beast: Herr Kujat, die westliche Welt steht geschlossen wie noch nie gegen Russland. Wie isoliert wird Russland nun langfristig sein?

Harald Kujat: Das lässt sich zurzeit nur schwer abschätzen. Es kommt darauf an, wie sich der Krieg in der Ukraine weiterentwickelt und ob es zu einer Eskalation kommt, die sich auch militärisch gegen den Westen richtet. Oder ob es zu ernsthaften Verhandlungen kommt, die eine Ausweitung des Krieges verhindern.

Militärisch gesehen, wie lange kann Putin diesen Krieg aufrechterhalten?

Wenn der Krieg auf die Ukraine begrenzt bleibt, dann kann Russland diesen Krieg so lange führen, bis die Ukraine vollständig geschlagen ist. Allerdings hat sich die Widerstandskraft der ukrainischen Streitkräfte als ziemlich groß herausgestellt. Die Kampfkraft der russischen Streitkräfte dagegen wider Erwarten niedriger als von einigen Experten eingeschätzt. Der Krieg dauert nun bereits einige Wochen. Aber wir müssen abwarten. Vielleicht gelingt es doch noch, einen Waffenstillstand zu vereinbaren.

Können wir unter den aktuellen Bedingungen jemals wieder an ein Verhältnis zu Russland unter seiner jetzigen Führung denken?

Das wird sich nicht vermeiden lassen. Egon Bahr hat es einst auf den Punkt gebracht: Die Vereinigten Staaten sind für die Sicherheit Europas und damit auch Deutschlands unverzichtbar. Russland hingegen ist unverrückbar. Es ist geografisch mit Europa verbunden. Das ist unabänderlich. Also müssen wir in irgendeiner Weise zu einem Modus Vivendi mit Russland kommen.

Wie könnte in dieser Situation ein Verhandlungsangebot aussehen, welches Putin dazu bewegt, den Krieg in der Ukraine zu beenden?

Ich bezweifele, dass der Westen aktuell über ein Angebot nachdenkt. Jetzt geht es vor allem darum, dass es möglichst schnell zu einem Waffenstillstand kommt und vielleicht auch zu einem Ende des Krieges. Erst danach wird es um Verhandlungen gehen. Wann und wie diese geführt werden, hängt davon ab, wie dieser Krieg beendet wird – mit einem baldigen Waffenstillstand oder einer Niederlage der Ukraine.

Welche Rolle spielt dabei die Frage einer ukrainischen NATO-Mitgliedschaft?

2008 hat der damalige US-Präsident Bush auf dem NATO-Gipfel in Bukarest versucht, eine Einladung der Ukraine und Georgiens in die NATO durchzusetzen. Das ist damals am Widerstand einiger NATO-Mitgliedstaaten gescheitert, weil die Ukraine die Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft – wie sie im Washingtoner Vertrag festgelegt sind – nicht erfüllte. Daran hat sich nichts geändert. Deshalb denke ich, dass auch heute und morgen keine Einladung ausgesprochen werden kann. Vielleicht hätte man dies vor dem russischen Angriff auf die Ukraine kommunizieren sollen.

Russland fordert deutlich mehr als nur einen Aufschub des Beitritts in ferne Zukunft. Im Grunde eine Art völkerrechtliche Festlegung, dass die Ukraine kein NATO-Mitglied wird.

Das kann die NATO keinesfalls machen. Aber es könnte eine Erklärung des Bündnisses geben, dass die NATO-Mitgliedstaaten nicht die Absicht haben, die Ukraine zum Beitritt einzuladen. Das ist dann zwar nicht das, was Russland erreichen will, aber vielleicht ein möglicher Kompromiss.

Nun ist die Situation eine andere. Können Sie sich vorstellen, dass es durch den Krieg in der Ukraine zu einem Weltkrieg oder sogar zu einer nuklearen Auseinandersetzung kommt?

Ich denke, dass der Westen und die NATO alles daransetzen, um einen militärischen Konflikt mit Russland zu verhindern. Trotzdem kann man nicht völlig auszuschließen, dass es in dieser angespannten Situation zu einem technischen oder menschlichen Versagen oder zu einer Fehleinschätzung der Lage durch eine Seite kommt. Dann könnte aus einem Funken schnell ein Flächenbrand werden.

Was könnte zum Flächenbrand führen?

Sollte der Krieg beispielsweise dadurch enden, dass Russland die Ukraine vollständig besetzt, dann stünden sich Soldaten der NATO und Russlands direkt gegenüber. Dann gilt es das zu tun, was die Amerikaner „De-Conflicting “ nennen. Das bedeutet, dass man mit der Gegenseite Vereinbarungen treffen muss, die einen Zusammenstoß und daraus folgend einen Krieg verhindern, den niemand will.

Blicken wir auf die deutschen Streitkräfte. Sehr kurzfristig wurden 100 Milliarden Sondervermögen zur Verfügung gestellt. Reicht diese Summe überhaupt für die Modernisierung der Bundeswehr?

Diese 100 Milliarden sind eine Anschubfinanzierung. Damit sollten vorrangig die größten Defizite beseitigt werden, die in den letzten Jahren entstanden sind. Dadurch könnte die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr erhöht und kurzfristig ein größerer Beitrag zur NATO Response Force geleistet werden, die jetzt die Verteidigungsbereitschaft in den osteuropäischen Mitgliedstaaten sicherstellen soll. Der Bundeskanzler hat auch angekündigt, dass bereits ab diesem Jahr zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Verteidigung fließen werden – das Zwei-Prozent-Ziel der NATO wird also erfüllt. Diese Mittel erlauben es langfristig zu planen und die Bundeswehr durch eine umfassende Reform der Struktur, des Personalumfangs sowie der Bewaffnung und Ausrüstung wieder zu ihrer verfassungsmäßigen Aufgabe zu befähigen: Der Landes- und Bündnisverteidigung.

Was bedeutet das für den ersten Schritt?

Vorrangig ist die Verbesserung der persönlichen Ausrüstung der Soldaten. Die Munitionsbevorratung muss auf NATO-Standard angehoben werden. Die Hälfte des Heeres ist immer noch mit dem Schützenpanzer „Marder“ ausgerüstet – der ist inzwischen 50 Jahre alt. Nur ein Teil hat den modernen Nachfolger „Puma“. Es gibt eine ganze Reihe solcher Fähigkeitslücken, die dringend geschlossen werden müssen. Der Bundeskanzler hat selbst einige Beschaffungsvorhaben genannt. Beispielsweise den Ersatz des Tornados durch die amerikanische F-35 oder die Beschaffung einer bewaffneten Drohne.

Wie wichtig wird in Zukunft die gemeinsame europäische Verteidigungspolitik?

Da stellt sich die Frage, ob man wirklich eine Parallelorganisation aufbauen will. Denn jedes Land hat ja nur eine Armee. Keiner hat eine Armee für die NATO und eine für die EU. Das heißt, wenn wir einen Teil der NATO zu Verfügung stellen und einen Teil der Europäischen Union, dann ist das sehr ineffektiv. Davon halte ich nichts.

Ist eine gemeinsame europäische Armee also keine gute Idee?

Das ist für die vorhersehbare Zukunft nicht durchführbar. Denn es würde voraussetzen, dass wir eine europäische Regierung haben und damit einen europäischen Verteidigungsminister. Ich glaube nicht, dass ein Land bereit wäre, seine Streitkräfte einem europäischen Kommissar zu unterstellen. Außerdem haben wir mit Frankreich eine Nuklearmacht in der EU. Glauben Sie, der französische Präsident überlässt einem europäischen Verteidigungsminister, zum Beispiel aus Deutschland, die Verfügungsgewalt über französische Nuklearwaffen? Das halte ich für ausgeschlossen. Wenn wir Europa militärisch handlungsfähig machen wollen, was ich für dringend geboten halte, dann sollten wir den europäischen Pfeiler in der NATO stärken.


Die Fragen stellte Maxim Zöllner-Kojnov.

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