„Eine europäische Armee wird es nicht geben…“

In Zeiten des Krieges in der Ukraine, diskutiert Europa seine Sicherheitsarchitektur. Die europäische Zusammenarbeit in Verteidigungsfragen steht auf dem Prüfstand. Und auch ein eigenes Verteidigungsbündnis nebst der NATO ist längst Teil der Debatte. Dr. phil. Dr. rer. pol. Thomas Raabe war von 2005 bis 2009 Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums, lehrte später am NATO Defense College und an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. Heute hat er einen Lehrauftrag an der Freien Universität zu Berlin und leitet die Abteilung Finanzen und Controlling des Bundesamts für Infrastruktur, Umweltschutz und Dienstleistungen der Bundeswehr. Eines seiner Fachgebiete: Internationale Rüstungskooperationen. An der Universität der Bundeswehr in München promovierte er im Jahr 2018 über die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr und Rüstungskooperationen der Bundesrepublik. Im Interview mit Business Beast äußert Thomas Raabe seine persönliche Meinung.

Business Beast: 100 Milliarden Sondervermögen sind beschlossen. Ein wesentlicher Teil des Geldes hat bereits einen konkreten Verwendungszweck. Werden diese Mittel richtig eingesetzt?

Thomas Raabe: Das Bundesverteidigungsministerium hat in enger Absprache mit dem Kanzleramt einen Wirtschaftsplan erstellt. Inzwischen ist auch öffentlich bekannt, in welche Projekte diese Mittel fließen sollen. Diese Planung wirkt vernünftig.   

Wird die Bundeswehr dadurch endlich einsatzbereit?

Sie wird jedenfalls einsatzbereiter sein als bisher…  

Die Bundeswehr soll endlich wieder zur Landes- und Bündnisverteidigung im Stande sein. Dafür stehen inzwischen 100 Milliarden Sondervermögen zur Verfügung. Ein wesentlicher Teil dieses Geldes soll für Großgeräte aufgewendet werden. Mit rund 33 Milliarden Euro stehen im Bereich der Luftwaffe die größten Ausgaben an, unter anderem für den Kauf von amerikanischen F-35-Kampfflugzeugen. Für 16,6 Milliarden sollen Schützenpanzer nachgerüstet und neu angeschafft werden, weitere 8,8 Milliarden werden in die Marine investiert. Doch auch für technologische Fähigkeiten wird Geld in die Hand genommen. Knapp 20 Milliarden Euro sollen allein in den Bereich „Führungsfähigkeit und Digitalisierung“ fließen. Mit 422 Millionen Euro wird die Bundeswehr künftig selbst zum Einsatz künstlicher Intelligenz forschen und Einsatzmöglichkeiten entwickeln. 

In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung sprachen Sie über den Zusammenhang von Wirtschaftspolitik und Verteidigungspolitik. Wie viel Wirtschaftspolitik steckt denn in Wahrheit in der deutschen Verteidigungspolitik?

Manchmal leider zu viel. Ausgangspunkt für die Rüstungspolitik sollte immer die reale Bedrohungslage sein. Denn daraus lässt sich ableiten, welche Waffensysteme wir für unsere Verteidigung überhaupt benötigen.

Was lief falsch?

In der Vergangenheit wurden Waffensysteme zu häufig in internationalen Rüstungskooperationen entwickelt, um gleichzeitig auch Wirtschaftspolitik, Standortpolitik und Technologiepolitik zu betreiben. Dies scheint sich erst durch die aktuelle Zeitenwende zu ändern.

Länder wie Frankreich oder Italien sind im Gegensatz zu Deutschland umfangreicher an ihrer wehrtechnischen Industrie beteiligt. Wie viel Chancengleichheit herrscht überhaupt auf dem europäischen Rüstungsmarkt?

Nun, in der Regel setzt sich trotz solcher Unterschiede das beste Produkt am Markt durch. Historisch gesehen lag die deutsche Rüstungsindustrie immer eher in privater, vor allem in mittelständischer Hand. Ich denke, dieses System hat sich für Deutschland bewährt. Frankreich ist das klassische Gegenbeispiel. Der französische Staat hat enormen Einfluss auf die heimische Rüstungsindustrie. Aber auch die deutsche Regierung hält durchaus Beteiligungen an Unternehmen. Beispielsweise an Airbus oder Hensoldt.

Wie stehen Deutsche Rüstungsgüter heute im globalen Wettbewerb da?

Deutsche Rüstungserzeugnisse haben weltweit einen durchaus guten Ruf. Ein Beispiel ist etwa der Panzerbau. Deutschland ist eine klassische Panzerbaunation – der neue „Panther“ von Rheinmetall ist nur ein Beispiel für ein sehr konkurrenzfähiges Angebot auf dem Markt. Andere Nationen haben ihre Expertise bei anderen Waffensystemen. Frankreich sicherlich beim Flugzeugbau. Großbritannien beispielsweise bei den Flugzeugturbinen. Amerikanische Produkte haben hingegen oft den Vorteil, dass sie durch verschiedene Einsätze der US-Armee schon erprobt und weiterentwickelt sind. Das ist in Deutschland in der Regel nicht der Fall.

Wie könnte eine europäische Koordination in Rüstungsfragen trotz nationaler Erwägungen über Technologieentwicklung, Standortsicherung oder Arbeitsplatzsicherung funktionieren?

Das wird seit vielen Jahren versucht. Ich bin jedoch skeptisch, da den einzelnen Ländern am Ende die nationale Wertschöpfung doch wichtiger ist. Andererseits sehen wir auch Projekte wie zum Beispiel FCAS (‚Future Combat Air System‘ – ein Mehrzweckkampfflugzeug, welches ab 2040 bei der deutschen Luftwaffe eingesetzt werden soll, Anm. der Redaktion), wo sich Frankreich, Deutschland und Spanien zusammengetan haben. Das liegt allerdings vor allem an den hohen Kosten des Projekts, die ein einzelnes Land kaum finanzieren kann. Bei solchen Leuchtturmprojekten kann es deshalb durchaus sinnvoll sein, innerhalb der europäischen Ebene zusammenzuarbeiten.

Ist die europäische Idee für den Bereich Rüstung und Verteidigung überhaupt geeignet?

Wenn man Europa als Insel betrachtet, also als selbstständige Einheit – ähnlich wie die USA oder China – dann kann man durchaus dem Gedanken folgen, dass Europa eine wettbewerbsfähige Rüstungsindustrie haben sollte. Aber wie gesagt, da bleibe ich skeptisch, weil es zu starke nationale Interessen innerhalb Europas gibt.

Wie könnte eine europäische Verteidigungszusammenarbeit überhaupt aussehen, während alle EU-Mitglieder bis auf vier Ausnahmen gleichzeitig längst auch NATO-Partner sind – kann neben der NATO ein rein europäisches Verteidigungsbündnis existieren?

Es kann für die NATO durchaus sinnvoll sein, Europa als strategischen Partner in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik anzusehen. Die NATO hat als Bündniszweck die Verteidigung des Bündnisgebietes. Eine europäische Verteidigungsunion könnte darüber hinaus auch den Zweck haben, im Umfeld Europas für Frieden zu sorgen. Doch das muss natürlich gut koordiniert werden, wenn man zwei Strukturen nebeneinander aufstellt.

Sind gemeinsame europäische Streitkräfte eine realistische Idee für die Zukunft?

Für eine europäische Armee sehe ich im Moment keine Chance. Aber ich sehe die Möglichkeit, auf dem Gebiet der Sicherheits- und Verteidigungspolitik deutlich enger zusammenzurücken. Es gibt bereits eine Reihe von Korps, die zusammenarbeiten. Ich denke zum Beispiel an die Deutsch-Französische Brigade, an das Multinationale Korps Nord-Ost, an dem Deutschland, Dänemark und Polen beteiligt sind, oder an die Internationale Lösung für den strategischen Lufttransport, wo mehrere NATO- und EU-Mitglieder gemeinsame Lufttransportkapazitäten für militärische und humanitäre Einsätze bereithalten. In einzelnen Punkten haben sich bereits mehrere Nationen geeinigt und arbeiten gut zusammen. Ich sehe allerdings nicht, dass es eine europäische Armee geben wird.

Herr Raabe, vielen Dank für das Gespräch.


Die Fragen stellten Louis Hagen und Maxim Zöllner-Kojnov.

Bild „Tornado Luftwaffe“ von Rob Schleiffert unter der Lizenz CC BY-NC-ND 2.0 via Flickr.
Bild „IDS Tornado 45+85“ von Bernhard Fuchs unter der Lizenz CC BY 2.0 via Flickr.

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